Umfassende Demokratie: Die Antwort auf die Krise der Wachstums-und Marktwirtschaft
TEIL I: DIE KRISE DER WACHSTUMSWIRTSCHAFT
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KAPITEL 1 : Die Marktwirtschaft und der Prozess ihrer Ausbreitung
Nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ kennzeichnet heute ein hoher Grad an Homogenität die Wirtschaft und die politischen Institutionen der Gesellschaft. Das System der Marktwirtschaft und die daraus folgende Wachstumswirtschaft (definiert als Wirtschaftssystem, das darauf abzielt, entweder „objektiv“ oder „nebenbei“ ökonomisches Wachstum zu maximieren) ist universal. Auch der Nationalismus, der normalerweise von einer Art liberaler „Demokratie“ begleitet wird, ist noch allgegenwärtig, trotz der Tatsache, dass die gegenwärtige staatliche Wirtschaftshoheit fast proportional zur Internationalisierung der Marktwirtschaft wegschmilzt. Es war nicht immer der Fall, dass sowohl Marktwirtschaft wie die gegenwärtige Form staatlicher „Demokratie“ als gegeben angenommen wurden. Sowohl der Nationalstaat wie auch die parlamentarische Demokratie sind historisch neuere Phänomene. Obwohl Märkte seit einer langen Zeit existierten, wurde auch das System der Marktwirtschaft erst vor zwei Jahrhunderten etabliert.
Das Ziel dieses Kapitels ist es, aufzuzeigen, dass wirtschaftliches Wachstum und die Ausbreitung der Marktwirtschaft (der historische Prozess, der die gesellschaftlich kontrollierten Wirtschaftssysteme der Vergangenheit in die Marktwirtschaft der Gegenwart verwandelt hat) die fundamentalen Pfeiler des gegenwärtigen Systems sind. Das erstere resultiert aus der Wachse-und-Stirb-Mentalität, die den Marktwettbewerb charakterisiert, während letztere aus der Jagd nach wirtschaftlicher Effizienz resultiert. Eine historische Untersuchung der ökonomischen Rolle des Staates zeigt einen klaren Zusammenhang zwischen der Veränderung seiner Rolle und den Hauptphasen des Prozesses der Ausbreitung der Marktwirtschaft [die in Anlehnung an Fotopoulos’ technischen Begriff marketization im folgenden of als „Vermarktwirtschaftlichung“, gelegentlich auch als „Vermarktlichung“ bezeichnet wird - d.Ü.]. Vor zwei Jahrhunderten spielte der Staat eine entscheidende Rolle beim Etablieren der Marktwirtschaft und im letzten Jahrhundert eine ebensolche während des ersten Versuchs, eine liberale internationalisierte Wirtschaft aufzubauen.
Der Aufstieg in diesem Jahrhundert von dem, was ich Etatismus nenne - die Periode aktiver Staatskontrolle der Wirtschaft und ausgedehnter Eingriffe in die Selbstregulierungskräfte des Marktes mit dem Ziel den Bereich wirtschaftlicher Aktivität direkt zu bestimmen - war ein historisch kurzes Zwischenspiel des Prozesse der Vermarktwirtschaftlichung. Die staatliche Phase dieses Prozesses dauerte nur ungefähr ein halbes Jahrhundert, darauf folgte der gegenwärtige Rollback der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft innerhalb des Rahmens eines neoliberalen Konsens. Das zeigt deutlich, dass wenn Marktwirtschaft einmal etabliert ist, ihre eigene Dynamik dazu tendiert, alle ernsthaften Versuche zu unterminieren, Selbstschutzmechanismen für die Gesellschaft gegen die Vorherrschaft des Marktes zu schaffen, und dass sie die Gesellschaft selbst in eine Marktgesellschaft transformiert.
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird die heutige Debatte über die „Globalisierung“ der Marktwirtschaft und das Ende des Nationalstaats betrachtet. Obwohl im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die richtigen Bedingungen für die internationalisierte Marktwirtschaft geschaffen wurden (und nach dem Zusammenbruch des ersten Versuchs in der ersten Phase der Ausbreitung der Marktwirtschaft), bedeutet dies nicht, wie die „Globalisten“ dies erwarten, das komplette Verschwinden des Nationalstaats oder der national fundierten Multinationalen Konzerne. Die derzeit erfolgreiche Internationalisierung der Marktwirtschaft repräsentiert jedoch eine höhere Stufe im Prozess der Vermarktwirtschaftlichung; eine Stufe, die das effektive Verschwinden der wirtschaftlichen Vorherrschaft des Nationalstaats beinhaltet. Im Gegensatz zum modernen sozialdemokratischen Denken ist es deshalb nicht nur die effektive soziale Kontrolle der nationalen Wirtschaft, die von der Internationalisierung der Marktwirtschaft verdrängt wird. Gleichermaßen unmöglich ist jede effektive soziale Kontrolle regionaler, kontinentaler und sogar weltweiter Marktwirtschaft.
Von den Märkten zu den Marktwirtschaften
Zu Anfang ist ein Wort der Erklärung notwendig zum Gebrauch des Begriffs „Marktwirtschaft“ anstelle des gewöhnlichen marxistischen Konzepts der „kapitalistischen Produktionsweise“, die die Produktionsbedingungen betont, oder alternativ der „kapitalistischen Weltwirtschaft“,[1] die sich auf die Tauschbeziehungen konzentriert. Die Wortwahl geht nicht von der Notwendigkeit aus, mit der heutigen „political correctness“ mitzuhalten, die die Wörter „Kapitalismus“ und - noch gebräuchlicher - „Sozialismus“ ausgemerzt hat. Es ist eine Wahl, die meiner Überzeugung Ausdruck verleiht, dass obwohl die Konzepte „kapitalistische Produktionsweise“ und „kapitalistische Weltwirtschaft“ wichtige Einblicke in die Analyse sozialer Klassen und speziell in die weltweite Aufteilung der Arbeit ermöglicht haben, diese zu eng und überholt sind.
Sie sind zu eng, weil sie beinhalten, dass die Machtverhältnisse im Allgemeinen in Begriffen wirtschaftlicher Machtverhältnisse analysiert (oder auf sie reduziert) werden können. Es ist eine zentrale Prämisse dieses Buches, dass wirtschaftliche Macht nur eine Form der Macht ist, und wenn sie als zentrales Analyseinstrument sozialer Phänomene benutzt wird, die mit hierarchischen Verhältnissen (im Haushalt, am Arbeitsplatz etc.) verbunden sind oder Fragen von rassischer oder kultureller Identität betreffen, dann ist es nur folgerichtig, dass sie zu unangemessenen oder zu vereinfachten Interpretationen führt.
Eine solche Analyse ist überholt, weil in der heutigen internationalisierten Marktwirtschaft weder die Klassenanalyse der marxistischen Theorie noch das Konzept der weltweiten Verteilung der Arbeit durch den „Welt-System“-Ansatz wirklich relevant sind. Während diese wichtigen Themen in diesem Buch erwähnt werden (wenn etwa die neuen Klassenverhältnisse betrachtet werden, die sich in der internationalisierten Marktwirtschaft herausbilden, oder wenn der neue Nord-Süd-Konflikt in Kapitel 3 angesprochen wird), ist es offenkundig, dass die gegenwärtige multidimensionale Krise innerhalb des erwähnten konzeptionellen Rahmens nicht fruchtbar diskutiert werden kann.
Natürlich bedeutet dies nicht, dass die zentrale Begrifflichkeit dieses Buches, die „Marktwirtschaft“ an sich breit genug angelegt ist, um die gesellschaftlichen Phänomene wie sie bereits erwähnt wurden adäquat zu interpretieren. Die einfache Tatsache, dass diese Begrifflichkeit noch dafür benutzt wird, nur einen Teil der Realität zu erklären, - den wirtschaftlichen Bereich -, ohne zu behaupten, dass dieser Bereich (nicht einmal in letzter Instanz) die anderen Bereiche bestimmt, erlaubt genügend Flexibilität für die Entwicklung adäquater interdisziplinärer Interpretationen gesellschaftlicher Realität.
Es ist daher klar, dass der Begriff „Marktwirtschaft“ hier benutzt wird, um das konkrete System zu definieren, das sich an einem bestimmten Platz (in Europa) zu einer konkreten Zeit (vor zwei Jahrhunderten) herausgebildet hat und nicht als eine allgemeingültige historische Begrifflichkeit eines Ansatzes, der darauf abzielt, die Evolution des Wirtschaftssystems in der Geschichte zu analysieren, wie es das marxistische Modell von der Produktionsweise vermeintlich beabsichtigt. Der methodische Ansatz, der in diesem Buch angenommen wird, geht auf die Prämisse zurück, dass es unmöglich ist, eine „allgemeingültige“ Theorie über die gesellschaftliche oder wirtschaftliche Evolution abzuleiten, die auf „wissenschaftlichen“ oder „objektiven“ Sichtweisen gesellschaftlicher Realität beruht (vgl. Kapitel 8).
Zuletzt sollte erwähnt werden, dass die Marktwirtschaft in diesem Buch nicht mit dem Kapitalismus identifiziert wird, wie dies normalerweise der Fall ist. Die Marktwirtschaft ist hier als selbstregulierendes System definiert, in dem die grundlegenden ökonomischen Probleme (was, wie und für wen produziert wird) „automatisch“ gelöst werden, über den Preis-Mechanismus anstelle bewusster gesellschaftlicher Entscheidungen. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass es in einer Marktwirtschaft überhaupt keine gesellschaftlichen Kontrollen gibt. An dieser Stelle sollten wir eine wichtige Unterscheidung einführen zwischen den verschiedenen Arten gesellschaftlicher Kontrolle, die uns helfen wird, den heutigen Prozess der Vermarktwirtschaftlichung und die Internationalisierung der Wirtschaft zu interpretieren.
Es gibt drei Haupttypen möglicher gesellschaftlicher Kontrolle über die Marktwirtschaft.
Zunächst gibt es das, was wir regulative Kontrolle nennen, die gewöhnlich von den Kapitalisten in die Kontrolle des Marktes eingeführt wurde, um den Markt zu regulieren. Das Ziel regulativer Kontrolle ist es, einen stabilen Rahmen für das glatte Funktionieren der Marktwirtschaft zu schaffen ohne seine wesentliche selbst-regulierende Natur zu beeinträchtigen. Solche Kontrollen sind immer für die Produktion und Reproduktion des Systems der Marktwirtschaft nötig gewesen. Beispiele sind die verschiedenen Kontrollen wie sie gegenwärtig in einer der letzten GATT-Runden oder durch den Maastrichter Vertrag eingeführt wurden, die darauf gerichtet sind, den Welt- bzw. den europäischen Markt im Interesse hauptsächlich derer zu regulieren, die diese Märkte wirklich kontrollieren (multinationale Konzerne, große europäische, nationale und multinationale Firmen etc.)
Zweitens gibt es das, was wir „gesellschaftliche Kontrolle im weitesten Sinne“ nennen können. Obwohl deren Hauptziel darin besteht, diejenigen gegen fremden Wettbewerb zu schützen, die die Marktwirtschaft kontrollieren, entstehen doch einige indirekte Auswirkungen, die auch für die restliche Gesellschaft vorteilhaft sein können. Ein Hauptbeispiel für solche Kontrollen sind die verschiedenartigen Schutzmaßnahmen, die heimische Waren und Kapitalmärkte schützen (Tarife, Importkontrollen, Devisenkontrollen etc.).
Zuletzt gibt es das, was wir „gesellschaftliche Kontrollen im engeren Sinne“ nennen können, die auf den Schutz der Menschen und der Natur gegen die Auswirkungen der Vermarktwirtschaftlichung abzielen. Solche Kontrollen sind normalerweise als Ergebnis sozialer Kämpfe eingeführt worden, geführt von denjenigen, die von den negativen Auswirkungen der Vermarktwirtschaftlichung selbst betroffen waren oder die Natur betroffen sahen. Typische Beispiele solcher Kontrollen sind die (sozialen) Sicherheitsgesetze, Wohlfahrtseinrichtungen, makroökonomische Kontrollen zur Sicherung der Vollbeschäftigung usw. Im Folgenden wird, wenn nicht ausdrücklich auf Anderes verwiesen wird, der Begriff „gesellschaftliche Kontrolle“ so verwendet, wie diese Kontrolle in der letzten Begrifflichkeit der „gesellschaftlichen Kontrolle im engeren Sinne“ beschrieben ist. Wie in diesem Kapitel an späterer Stelle gezeigt wird, versuchen diejenigen, die die internationalisierte neoliberale Marktwirtschaft bestimmen, die Abschaffung der gesellschaftlichen Kontrolle (und zwar sowohl im weiteren, wie im engeren Sinne) zu betreiben; die reguläre Kontrolle dagegen wollen sie nicht abschaffen.
Die Marktwirtschaft wie sie hier definiert ist, ist umfassender als das, was der Begriff „Kapitalismus“ beinhaltet. Die erstere bezieht sich darauf wie Ressourcen verteilt werden, während der letztere sich auf die Eigentumsverhältnisse bezieht. Obwohl die Marktwirtschaft historisch mit dem Kapitalismus verbunden wird, namentlich mit Privateigentum und der Kontrolle der Produktionsmittel, ist eine Marktverteilung der Ressourcen nicht unvereinbar mit einem System gesellschaftlichen Eigentums und gesellschaftlicher Kontrolle wirtschaftlicher Ressourcen. Diese Unterscheidung zwischen Kapitalismus und der Marktwirtschaft ist speziell heute von Nutzen, wo viele aus der selbsternannten „Linken“ nach dem Scheitern der sozialistischen Planwirtschaft die Vorzüge einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ wiederentdecken.[2] Gleichzeitig haben einige „kommunistische“ Parteien im Süden (China, Vietnam etc.) sich auf eine Strategie eingelassen, die „sozialistische Marktwirtschaft“ aufzubauen, und sie befinden sich in einem Prozess, der eine Synthese der schlechtesten Elemente der Marktwirtschaft (Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Armut) und des „sozialistischen Staates“ (Autoritarismus, das Fehlen jeder politischen Freiheit etc.) zusammenbringt.
Dieses Buch, so hoffe ich, soll deutlich machen, dass das Endziel eines neuen „Befreiungsprojekts“ nicht die bloße Abschaffung kapitalistischer Eigentumsbeziehungen ist, sondern der Marktwirtschaft selbst.
Der erste Teil des Kapitels wird kurz die lange historische Phase diskutieren, die der Herausbildung des Marktwirtschaftssystems vorausging. Im zweiten Teil folgt eine Diskussion der historischen Phasen des Prozesses der Ausbreitung der Marktwirtschaft.
„Vormarktwirtschaftliche“ Märkte
Weil die gesellschaftlichen Kontrollen allmählich aufgehoben werden, tendiert die Vermarktwirtschaftlichung dazu, alle Waren und Dienstleistungen zu Waren zu machen und die Bürger in bloße Konsumenten zu verwandeln. Obwohl der Markt heute alle Aspekte des Lebens durchdringt, vom Familienleben bis zur Kultur, der Erziehung, der Religion usw., kann leicht aufgezeigt werden, dass - trotz der Tatsache, dass Märkte seit langer Zeit existierten - die Vermarktlichung der Wirtschaft ein neues Phänomen ist, das in den letzten zwei Jahrhunderten aufgetaucht ist. So wie es Karl Polanyi in seinem klassischen Buch The Great Transformation („Die große Transformation“) beschreibt:
Vor unserer Zeit hat keine Ökonomie existiert, die auch nur prinzipiell von den Märkten kontrolliert gewesen wäre... Obgleich die Institution des Marktes seit dem späten Steinzeitalter ziemlich verbreitet war, (war seine Rolle für das wirtschaftliche Leben wenig mehr als nebensächlich) beschränkte sich seine Rolle für das wirtschaftliche Leben darauf, Anreize zu geben... Während die Geschichte und die Volkskunde verschiedene Arten von Märkten kennt, die meisten davon kommen der Institution des Marktes entgegen, kennt sie keine Wirtschaft vor der unsrigen, die auch nur annähernd durch die Märkte kontrolliert und reguliert wäre.[3] ... Alle Wirtschaftssysteme, die uns bis zum Ende des Feudalismus in Westeuropa bekannt sind, wurden entweder nach den Prinzipien der Gegenseitigkeit, der Verteilung, der Subsistenz (das bedeutet der Produktion für den eigenen Gebrauch) oder einer Verbindung dieser drei organisiert.[4]
Die Motive, die das Funktionieren des Wirtschaftssystems sicherten, wurden deshalb von den Sitten, dem Gesetz, der Magie und der Religion abgeleitet - aber nicht vom Gewinnstreben. Märkte spielten bis zum Ende des Mittelalters keine entscheidende Rolle im Wirtschaftssystem. Selbst als die Märkte ab dem 17. Jahrhundert sowohl zahlreicher als auch wichtiger wurden, waren sie strikt von der Gesellschaft kontrolliert - unter Bedingungen, wie sie von Peter Kropotkin bestens beschrieben wurden, die einen selbstregulierenden Markt undenkbar machten:
Der interne Handel wurde vollständig von den Gilden und nicht von individuellen Handwerkern ausgeführt - die Preise wurden in gegenseitigem Einvernehmen festgesetzt... Anfangs wurde der externe Handel ausschließlich von der Stadt ausgeführt und erst später wurde es ein Monopol der Kaufleute-Gilde und noch später von individuellen Kaufleuten. ... Die Versorgung von grundlegenden Gebrauchsgütern wurde immer von der Stadt gewährleistet und diese Sitte wurde in einigen Schweizer Städten für das Korn bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bewahrt.[5]
Als Regel kann gelten, dass sowohl die altertümliche wie die feudale Wirtschaft in gesellschaftlichen Beziehungen wurzelte und die Verteilung der materiellen Güter durch nicht-ökonomische Motive geregelt wurde. Die Güter des täglichen Lebens wurden, selbst im Mittelalter noch, normalerweise nicht auf dem Markt gekauft und verkauft. Verbunden damit, dass vor der Industriellen Revolution weder die Arbeit noch der Boden zur Ware gemacht worden war, macht diese Tatsache deutlich, dass der Vermarktlichungsprozess vor dem Aufstieg der Industrialisierung nicht begonnen hatte. Es geschah deshalb erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts, dass ein sich selbst-regulierender Markt geschaffen wurde, der - zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte - die institutionelle Trennung der Gesellschaft in eine ökonomische und eine politische Sphäre schuf. Weder unter stammesgeschichtlichen noch under feudalen oder kaufmännischen Bedingungen hatte es eine abgetrennte wirtschaftliche Sphäre gegeben.[6]
Der wirtschaftliche Liberalismus projiziert die Prinzipien, die dem selbstregulierenden Markt zugrunde liegen, zurück auf die gesamte Geschichte menschlicher Zivilisation, dabei verdreht er die wahre Natur und die Ursprünge des Handels, des Marktes und des Geldes genauso wie die des Stadtlebens, die einem Entwicklungsprozess unterlagen. Fast alle anthropologischen oder soziologischen Annahmen, die in der Philosophie des wirtschaftlichen Liberalismus enthalten sind, wurden von der sozialen Anthropologie, primitiven Ökonomien, der Geschichte früher Zivilisationen und der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte widerlegt. Es gibt beispielsweise keinen Beweis, um die Behauptungen abzusichern, dass es für Menschen natürlich sei, für eine Arbeit Bezahlung zu erwarten („sogar noch im Mittelalter ist eine Bezahlung für die Arbeit von Fremden etwas Unbekanntes“[7]), oder dass das Motiv des Gewinnstrebens „natürlich“ sei. Dasselbe gilt für eine andere entscheidenden Annahme des wirtschaftlichen Liberalismus, nämlich, dass Märkte, genauso wie Geld, spontan entstehen, wenn Menschen sich selbst überlassen wären. Tatsächlich entstehen sowohl Märkte wie das Geld nicht innerhalb einer Gemeinschaft sondern außerhalb.[8] Der Handel selbst hängt nicht von den Märkten ab und sogar der mittelalterliche Geldhandel entwickelte sich in den Anfängen unter dem Einfluss des Exporthandels und nicht des lokalen Handels und fand von seiner Art her mehr zwischen den Kommunen als zwischen den Individuen statt. Des Weiteren besaßen die lokalen Märkte keine Tendenz zu wachsen - eine Tatsache, die belegt, dass im Gegensatz zur gesammelten liberalen (und marxistischen) Weisheit, der Vermarktlichungsprozess der Wirtschaft nicht „unausweichlich“ ist. Damit übereinstimmend stellt auch Henri Pirenne heraus: „Es wäre auf den ersten Blick anzunehmen, dass sich inmitten der landwirtschaftlichen Bevölkerung nach und nach eine Kaufmannsklasse herausgebildet hätte. Es gibt jedoch nichts, das dieser These Glaubwürdigkeit verleiht.“[9]
Nationalstaaten und Märkte
Der parallel zum Prozess der Vermarktwirtschaftlichung verlaufende Aufstieg des modernen Nationalstaats war auch keineswegs so unvermeidlich, wie die Marxisten glauben, die darin „Modernität“ und Fortschritt erblicken, eben nur ein Durchgangsstadium, das die Industrialisierung voran bringt und somit eine notwendige Bedingung für die Einführung des Sozialismus erfüllt. Marx selbst begrüßte diese „Einheit großer Völker, die, wenn ursprünglich durch Gewalt zustande gebracht, doch jetzt ein mächtiger Faktor der gesellschaftlichen Produktion geworden ist“.[10] Dem hält aber Bookchin entgegen:
Wenn man sich klarmacht, wie viele kommunale Föderationen es in Europa seit dem 11. Jahrhundert gegeben hat, dann erweist sich die selbstsichere Behauptung unserer Historiker, der Nationalstaat sei die „logische“ Weiterentwicklung des europäischen Feudalismus gewesen, als bloßes Vorurteil.[11]
Während es also Staaten als solche seit 5500 Jahren gibt (sobald nämlich, zunächst in Ägypten, zeitgleich mit wirtschaftlichen Überschüssen zum ersten Mal wirtschaftliche Ungleichheit entstanden war), entwickelten sich Nationalstaaten erst zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert n.Chr. - übrigens gegen den erbitterten Widerstand der Freien Städte und der aufständischen Dörfer. In moderner Form finden wir sie überhaupt erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vor.
Bookchin weist auch darauf hin,[12] dass die Idee der „Nation“ dem antiken Denken fremd war und dass man sich damals in erster Linie seinen Verwandten und seiner Gemeinschaft, allenfalls der jeweiligen Region, verbunden fühlte. Weder entwickelte sich unter den griechischen poleis eine griechische „Nation“ noch waren die antiken Großreiche in irgendeinem Sinne „Nationen“. Und noch die Monarchien des Mittelalters - mochten einige von ihnen auch über ein nationales Territorium verfügen, über das sie Souveränität beanspruchten - waren nach April Carter eigentlich Teil der europäischen Christenheit: „Im mittelalterlichen Territorialregime gab es wenig Nationalstaat, gab es überhaupt wenig Staat. Es existierte kein staatliches Muster, sondern eher ein Paradies der adligen Besitztümer.“[13]
Man kommt um die Einsicht nicht herum, dass die Machtkonzentration, die auf den Aufstieg des Nationalstaats und der Marktwirtschaft folgte, nichts Naturnotwendiges an sich hatte. Jener verdankte seinen Erfolg der militärischen Gewalt, diese der wirtschaftlichen Gewalt als Folge der schreienden wirtschaftlichen Ungleichheit, die wiederum eine notwendige Folge der mit dem Aufkommen der mechanisierten Massenproduktion einher gehenden drastischen Lockerung der gesellschaftlichen Marktkontrollen darstellten. In Bezug auf den Prozess der politischen und wirtschaftlichen Machtkonzentration zu Gunsten der Herrschaftseliten tauschten dabei Staat und Markt die Rollen. Denn während vor dem Einsetzen des Prozesses der Vermarktwirtschaftlichung Macht durch politische Mittel im weitesten Sinne (wie Eroberung, Konfiskation, Enteignung, Sklaverei, priesterliche Macht) erworben und konzentriert wurde - wobei der Markt eine unwesentliche, der Staat hingegen die Hauptrolle spielte - erfolgte die Machtakkumulation später vor allem durch wirtschaftliche Mittel (also durch den Markt selbst); der Staat sorgte nur noch für die Legitimation dieses Prozesses.
Das Aufkommen der Marktwirtschaft
Selbstregulierende Märkte gab es auch in früheren Wirtschaftssystemen (denn überall führen Marktpreise zu einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage), doch die Marktwirtschaft unterscheidet sich von all diesen dadurch, dass in ihr zum ersten Mal ein selbstregulierendes Marktsystem auftaucht, in dem auch für die Produktionsmittel - also Arbeit, Boden und Kapital - die Marktgesetze gelten sollen. Wenn aber der Markt das Wirtschaftssystem steuert, dann heißt das nach Polanyi „nicht weniger, als dass die Gesellschaft als ein Anhängsel des Marktes angesehen wird: Früher war der Markt in das Geflecht der gesellschaftlichen Beziehungen eingebunden, jetzt hingegen sind diese in das Wirtschaftssystem eingebettet“.[14] Da als Treibsatz des neuen Systems die Konkurrenz fungierte, musste seine Dynamik dem Prinzip „Wachse oder stirb“ gehorchen, woraus wiederum folgt, dass jede Marktwirtschaft sich am Ende internationalisieren muss.
Das heißt aber nicht, dass man wie die Marxisten den Übergang von den Vorläufern der „Marktwirtschaft“ zur heutigen internationalisierten Marktwirtschaft evolutionär erklären könnte. Die Marktwirtschaft hat sich eben nicht graduell aus dem Feudalsystem heraus „entwickelt“, sondern hat sich im England des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts geradezu explosionsartig ausgebreitet.[15] Liberale wie Marxisten haben Unrecht mit ihrer Behauptung, die Vermarktwirtschaftlichung der Wirtschaft sei die evolutionäre Folge einer merkantilistischen Ausweitung des Handels. Wir müssen hier allerdings drei Erscheinungsformen des Handels unterscheiden: a) Außenhandel, d.h. der Austausch von (Luxus-)Gütern, die am jeweils anderen Ort nicht verfügbar waren; b) örtlicher Handel mit solchen Gütern, die wegen ihres Gewichts oder Volumens oder ihrer begrenzten Haltbarkeit nicht transportiert werden konnten; c) Binnenhandel mit Gütern,. die aus unterschiedlichen Quellen in Konkurrenz zueinander angeboten wurden. Nur für die letztgenannte Variante galt das Konkurrenzprinzip, während die beiden anderen von komplementärer Natur waren. Im Prozess der Vermarktwirtschaftlichung spielte nun der Binnenhandel die maßgebliche Mittlerrolle. Er war es, der sich zum „nationalisierten“ Markt auswuchs, nicht der Außenhandel und auch nicht der örtliche Handel.
Wenn aber das moderne Marktwesen sich weder von den örtlichen Märkten noch von den Export-/Importmärkten ableitet, wie lässt sich dann der Prozess der Vermarktwirtschaftlichung erklären? Hier nun spielte der Nationalstaat, der sich am Ende des Mittelalters herausbildete, die entscheidende Rolle, indem er (a) in der merkantilistischen Phase die Voraussetzungen für eine „Nationalisierungsphase“ des Marktes schuf und (b) in der liberalen Phase den Markt von allen wirksamen gesellschaftlichen Kontrollen befreite.
Der Nationalstaat, der seinen Aufstieg also noch vor der Vermarktlichung der Wirtschaft erlebte, zerstörte zusammen mit der politischen auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit der städtischen und dörflichen Gemeinschaften. Begleitet wurde er vom Erstarken des Nationalismus, also von jener neuen Ideologie, der zu Folge sich das Individuum nicht mehr wie zuvor mit seiner Gemeinschaft, sondern mit einem abstrakten Staatsgebilde zu identifizieren hatte.
Man kann jedoch aus der Tatsache, dass der Staat bei der Vermarktwirtschaftlichung eine entscheidende Rolle spielte und dass vor allem im 19. Jahrhundert die jungen Nationalstaaten im Inland systematisch Marktwirtschaften aufzubauen und abzusichern trachteten, keinen strengen Kausalnexus ableiten. Der Aufstieg der Nationalstaaten und das Aufblühen der „Nationalökonomie“ sind nicht als Ursache und Wirkung zu betrachten. Gewiss war mit dem Sieg des Nationalstaats über die föderativen Organisationsformen gewöhnlich eine Ausbreitung der Marktwirtschaft verbunden; doch weist z.B. Bookchin auf Fälle staatlichen Parasitentums und sogar Rückschritts hin.[16]
Bei der Einschätzung der Rolle des Staates im Merkantilismus muss man bedenken, dass der Handel vor dieser revolutionären Umgestaltung sich nicht im nationalen Raum abspielte, sondern unter den Gemeinden oder innerhalb derselben; Städte und Dörfer betrieben örtliche Märkte und waren regional statt national miteinander verknüpft. Die sich neu formierenden Nationen waren rein politische Einheiten; wirtschaftlich bestanden sie aus zahllosen autarken Haushalten und unbedeutenden Dorfmärkten. Jeder Versuch - vor allem seitens der reichen Großkaufleute - nationale Märkte herauszubilden, traf auf den erbitterten Protektionismus der Städte und Gemeinden. Es bedurfte erst gezielter staatlicher Interventionen im 15. und 16. Jahrhundert, um zu „nationalisierten“ Märkten und zu einem echten Binnenhandel zu gelangen.[17] Kropotkin schreibt:
Das ganze 16. Jahrhundert mit seinen blutrünstigen Kriegen lässt sich auf dieses Ringen zwischen dem entstehenden Staat und den miteinander verbündeten freien Städten reduzieren (...) Im 16. und 17. Jahrhundert bestand die Rolle des (gerade erst entstehenden) Staates darin, die Unabhängigkeit der Städte zu brechen, (...) ihnen den Außenhandel zu entwinden und sie dadurch zu ruinieren, (...) sowohl den Binnenhandel als auch das gesamte Manufakturwesen unter die absolute Kontrolle seiner Beamtenschar zu stellen.[18]
Im Anschluss an die „Nationalisierung“ der Märkte führten weitere staatliche Aktionen im 16. und 17. Jahrhundert dazu, dass die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Städte noch mehr geschwächt und die Dörfer vollends ruiniert wurden. Hierzu ist auch die Enteignung des Gemeindelandes (enclosure) zu rechnen, die in Westeuropa um 1850 abgeschlossen war.[19] Die Folge war nicht nur die Zerstörung gemeinschaftlicher Bindungen in Stadt und Land, sondern die Errichtung der Grundlagen einer auf Vermarktlichung zielenden Wirtschaft, waren doch nun Boden und Arbeitskräfte in Menge freigesetzt und konnten auf dem sich neu herausbildenden Grundstücks- bzw. Arbeitsmarkt frei gehandelt werden.
Doch bei aller Neigung zur Kommerzialisierung hat der Merkantilismus nie die institutionellen Sicherungen gefährdet, die sowohl den Boden als auch die arbeitenden Menschen davor schützten, „vermarktwirtschaftlicht“ zu werden. Im Feudalismus hatte die über sie ausgeübte gesellschaftliche Kontrolle in Tradition und Sitte bestanden; im Merkantilismus wurden daraus Statuten und Verordnungen. Die merkantilistische „Befreiung“ des Handels löste diesen also nur aus seinen lokalen Zwängen; das Marktwesen blieb eines von vielen Aspekten eines stärker denn je gesellschaftlich bestimmten institutionellen Rahmens. Bis zur Industriellen Revolution wurde nie versucht, eine Marktwirtschaft - also einen umfassenden selbstregulierenden Markt - ins Leben zu rufen. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts führte der Übergang von regulierten Märkten zu einem System selbstregulierender Märkte zur „großen Transformation“ der Gesellschaft, also zur Marktwirtschaft. Bis zu diesem Zeitpunkt war in England, der Geburtsstätte der Marktwirtschaft, wie auch im übrigen Westeuropa die Industrieproduktion ein bloßes Anhängsel des Handels gewesen Der Einsatz von Maschinen in der Produktion und die Errichtung des Fabriksystems verkehrten dieses Verhältnis in sein Gegenteil. Die für das Industriewesen charakteristische Vermarktwirtschaftlichung von Boden, Arbeitskräften und Kapital wurde, so Polanyi,
zur notwendigen Konsequenz der Einführung des Industriesystems in der kommerzialisierten Gesellschaft ... Organisationsprinzip der Gesellschaft wurde die Fiktion, man könnte [diese Produktionsmittel] wie Waren erzeugen ... Aus der menschlichen Gesellschaft ist ein Anhängsel des Wirtschaftssystems geworden ... Aus dieser Wandlung folgt auch eine Veränderung in der Motivation des Handelns aller Mitglieder der Gesellschaft: Gewinn, nicht Existenzsicherung, muss die Triebkraft sein. Alle Transaktionen werden monetarisiert ... Die Preise müssen sich frei einpendeln können.[20]
Als besonders folgenschwer erwies sich die Vermarktwirtschaftlichung des Bodens und der Arbeitskraft. Unter dem Gildensystem waren sowohl die Arbeitsbedingungen als auch der Arbeitslohn gesellschaftlich bestimmt, also durch Tradition und durch die Regeln und Gesetze der Städte und ihrer Gilden. Nicht anders beim Grundbesitz: Gesetze und Gebräuche bestimmten Status und Funktion des Bodens (wer ihn wofür nutzen durfte, wie und unter welchen Bedingungen das Eigentum an andere übergehen konnte etc.). Indem die Gesellschaft die Kontrolle über Land und Arbeitskraft verlor, entstanden neue Herrschaftsformen und wurden die überkommenen Gemeinschaftsgeflechte in Gilden und Dörfern, die alten Pachtverhältnisse etc. zerstört. So herrschte etwa bis Anfang des 16. Jahrhunderts in allen Gesellschaften das Prinzip, dass niemand Not leiden solle[21]; in diesen primitiven Gesellschaftsformen musste man nur verhungern, wenn alle unter der Hungersnot zu leiden hatten. Da ein selbstregulierender Markt den Hunger notwendig voraussetzt, musste die organische Gesellschaft liquidiert werden. Man könnte auch sagen, dass - anders als die Ökonomen die Menschen glauben machen - der relative Wohlstand heute niedriger liegt als im Mittelalter![22]
Vermutlich hätte also die Vermarktwirtschaftlichung der Gesellschaft nur durch eine drastische Veränderung der ökonomisch-gesellschaftlichen Struktur Westeuropas während der Industriellen Revolution verhindert werden können, um den Einsatz von Maschinen zur Massenproduktion unter Beibehaltung der gesellschaftlichen Kontrolle über diese Produktion zu ermöglichen. Eine solche Veränderung hätte aber eine mit der Industriellen Revolution einher gehende wirtschaftsdemokratische Umgestaltung der Gesellschaft erfordert - und da diese ausblieb, kam es, wie es kommen musste. Im Interesse einer ungestörten Produktion mussten die Fabriken ihre gesicherte Versorgung mit Boden und Arbeitskräften organisieren. Dies war aber unter den Bedingungen einer kommerzialisierten Gesellschaft nur möglich, wenn natürliche Ressourcen und menschliche Aktivitäten in Waren verwandelt wurden, deren Verfügbarkeit sich nicht nach den Bedürfnissen der Menschen oder nach ökologischen Bedingungen, sondern allein nach den Marktpreisen richtete. Führte man also in einer kommerzialisierten Gesellschaft, in der sich die Produktionsmittel in Privatbesitz befanden und privat über sie verfügt wurde, ein neues Produktionssystem ein, so musste sich notwendigerweise (allerdings vom Staat kräftig gefördert) aus der alten, gesellschaftlich kontrollierten Wirtschaft, in der Märkte nur eine marginale Rolle spielten, die heutige Marktwirtschaft herausbilden.
Diejenigen, die die Produktionsmittel unter ihrer privaten Kontrolle hatten, konnten aber in der Konkurrenzsituation nur überleben, wenn sie ökonomisch „effizient“ waren. Dazu mussten sie zweierlei sicherstellen:
Die kostengünstigste Versorgung mit Land und Arbeitskräften. Nun besteht zwischen diesem Zustrom und den sozialen Marktkontrollen ein reziprokes Verhältnis: Je besser diese Kontrollen - insbesondere auf dem Markt für die Produktionsmittel Boden, Arbeit, Kapital - greifen, um so schwieriger ist es, diese zu Minimalkosten zu beschaffen. Gelten beispielsweise Arbeitsschutzgesetze, so ist der Arbeitsmarkt weniger flexibel und der Zustrom entweder zäher oder aber teurer. Daher haben die Privateigentümer der Produktionsmittel sich stets für eine verstärkte Vermarktlichung der Wirtschaft, das heißt auch für eine Minimierung der sozialen Marktkontrollen, eingesetzt.
Den stetigen Fluss von Investitionsmitteln in neue Techniken, Produktionsverfahren und Produkte. Man musste Konkurrenzfähigkeit und Absatz steigern (nach dem bekannten Motto „Wachse oder stirb“),[23] und so erhalten wir Wirtschaftswachstum. Nicht zufällig wurde demnach „der moderne Wachstumsbegriff vor vier Jahrhunderten in Europa formuliert, als nämlich der Trennungsprozess zwischen Wirtschaft und Gesellschaft einsetzte“,[24] auch wenn die eigentliche Wachstumswirtschaft viel später - mit der Einführung der Marktwirtschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts - entstand und ihre Blüte erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte.
Im letzten Teil dieses Kapitels werde ich den Prozess der Ausbreitung der Marktwirtschaft untersuchen, um mich anschließend in Kapitel 2 der Wachstumswirtschaft zuzuwenden. Bei der Vermarktwirtschaftlichung lassen sich drei Phasen unterscheiden: Auf die (1) liberale Phase folgt nach einer protektionistischen Übergangszeit die (2) etatistische Phase, die schließlich in die gegenwärtige (3) neoliberale Phase mündet.
Der Prozess der Vermarktwirtschaftlichung - die liberale Phase
Der Übergang zur Marktwirtschaft entsprach also einem Bruch zwischen Gesellschaft und Wirtschaft - einem Bruch, der nach der inneren Logik des Systems eine unaufhaltsame Dynamik freisetzte. Wer über die Produktionsmittel verfügte, musste innerhalb des marktorientierten Produktionssystems in Kosten und Absatz „effizient“ sein, um gegen die Konkurrenz zu bestehen. Die Effizienz hängt aber, wie schon gesagt, ebenso von den Investitionen in neue Produkte und Produktionstechniken und der daraus resultierenden starken Ausweitung der Produktion (also vom Wirtschaftswachstum) ab wie von der Sicherstellung einer möglichst kostengünstigen Versorgung mit Boden und Arbeit (also von der Vermarktwirtschaftlichung). Das eine förderte die für die Marktwirtschaft charakteristische Dynamik des Wachse-oder-stirb, aus der unsere derzeitige multidimensionale Krise erwuchs, das andere ließ Arbeit und Boden zur Ware werden. Nur sagt schon Polanyi:
Was sind aber Arbeit und Boden anderes als die Menschen selbst, die jede Gesellschaft konstituieren, und die sie umgebende Natur? Wer also Arbeit und Boden den Marktmechanismen ausliefert, ordnet geradezu die gesellschaftliche Substanz den Marktgesetzen unter.[25]
Polanyis Erkenntnisse erhalten für mich besonderes Gewicht, weil er den der Marktwirtschaft inhärenten Grundwiderspruch nicht wie Marx[26] als ökonomischen Konflikt zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften interpretierte (wo sich die Produktionsverhältnisse aus Entwicklungsstufen der Produktivkräfte „in ebenso viele Fesseln verwandeln“), sondern als einen umfassenderen gesellschaftlichen Konflikt zwischen den Erfordernissen der Marktwirtschaft und den Bedürfnissen der Gesellschaft, vor allem als die Diskrepanz, die darin liegt, dass in der Marktwirtschaft Arbeit und Boden als echte Waren mit freien Märkten behandelt werden müssen, während sie doch nur fiktive Waren darstellen.
Mit der Vollendung der Marktwirtschaft brach also sofort ein unablässiger gesellschaftlicher Kampf aus, den man schematisch als den Kampf zwischen denen, die über die Marktwirtschaft bestimmen - d.h. den kapitalistischen Herrschern über Produktion und Distribution - und der übrigen Gesellschaft kennzeichnen kann. Die Herren über die Marktwirtschaft strebten eine maximale Vermarktwirtschaftlichung von Boden und Arbeit an, also die Minimierung - idealer Weise die völlige Aufhebung - aller sozialen Kontrollen dieser Faktoren, so dass ihr freier Fluss zu minimalen Kosten gesichert war. Die am anderen Ende der Gesellschaft Lebenden, vor allem also die wachsende Arbeiterklasse, wollte ein Maximum an sozialen Kontrollen und somit den größtmöglichen Selbstschutz der Gesellschaft vor den Gefahren der Marktwirtschaft wie Armut und Arbeitslosigkeit.
Theoretisch und politisch realisierte sich dieser Konflikt in der Konfrontation von Wirtschaftsliberalismus und Sozialismus (im weitesten Sinne verstanden). Der Wirtschaftsliberalismus suchte einen selbstregulierenden Markt zu schaffen und setzte dabei auf laissez-faire, Freihandel und Regulierungen. Der Sozialismus hingegen wollte die Welt der Menschen sowie die Organisation der Produktion bewahren, und zwar hauptsächlich durch gesellschaftliche Kontrolle der Märkte. (Umwelt und Natur kümmerten die Sozialisten nicht, identifizierten sie doch Fortschritt mit Wachstum, siehe Kapitel 2). Diese Konfrontation hat die Geschichte Europas seit der Industriellen Revolution bis zum heutigen Tage wesentlich bestimmt. Auf den frühen Wirtschaftsliberalismus (Phase 1 der Vermarktwirtschaftlichung), der noch stabile Reproduktionsbedingungen entbehren musste, folgte der sozialistische Etatismus, worunter wir die historische Bewegung zu Eroberung der Staatsmacht (auf legalem oder revolutionärem Wege) als Voraussetzung für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel verstehen. Auf diesen folgte wiederum (als Phase 3 der Vermarktwirtschaftlichung) der wirtschaftliche Neoliberalismus unserer Tage.
Die Entstehung des Wirtschaftsliberalismus
Ende des 18. Jahrhunderts war der Übergang vom gesellschaftlich kontrollierten zum selbstregulierenden Markt vollendet; ein wichtiger Schritt dazu war die 1795 in Kraft getretene Freizügigkeit der englischen Arbeitskräfte. Damit brach der Konflikt zwischen der Gesellschaft und den Herren über die Marktwirtschaft offen aus. Fast schlagartig entstand eine politisch und in den Betrieben tätige Arbeiterbewegung, auf deren Druck hin Fabrik- und Sozialgesetze erlassen wurden. So wurden 1824 die beiden British Combination Acts aus den Jahren 1799/1800 kassiert; sie hatten alle Gewerkschaften (weil die Handelsfreiheit gefährdend) zu Verschwörungen gegen das Gemeinwohl erklärt. Nur waren all diese Einrichtungen mit der Marktwirtschaft und ihren selbstregulierenden Märkten unvereinbar, und daraus erwuchs eine Gegenbewegung der Herren über die englische Marktwirtschaft. Das Ergebnis waren die Gesetze über den freien Arbeitsmarkt (1834) und den freien Grundstücksmarkt (1830-1860) sowie die Abschaffung bzw. Senkung der Ausfuhr- und Einfuhrzölle in den 40er Jahren. Überhaupt waren die Jahre 1830-1850 - hierin den 80ern und 90ern des 20. Jahrhunderts sehr ähnlich - von einer Flut von Deregulierungsgesetzen zu Gunsten eines selbstregulierenden Marktes gekennzeichnet; das Ergebnis waren Freihandel, freie Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und der Goldstandard (System fester Wechselkurse, bei dem der Wert der einzelnen Währungen an den Goldpreis gekoppelt wurde).
Gerade der Goldstandard stellte mit seiner vermeintlichen Anpassungsautomatik ein Kernstück dieses Prozesses dar. Nachdem England ihn bereits 1821 eingeführt hatte, Frankreich und die USA in den 50er Jahren und Deutschland 1870 folgten, hatte er sich 1880 allgemein durchgesetzt. Ziel war die Sicherstellung eines stabilen Umfelds für den Welthandel nach dem Vorbild des bereits zuvor stabilisierten Binnenhandels. Mittels festgeschriebener Wechselkurse sollte eine internationalisierte Marktwirtschaft geschaffen werden. Goldstandard, das hieß auch - so Ludwig von Mises - die Abschaffung der Zentral- oder Nationalbanken, denn deren Entscheidungen waren ja Eingriffe in die Selbstregulierung des Systems - vor allem, wenn dafür politische Motive vorlagen, sozusagen als Selbstschutzmaßnahmen der Gesellschaft gegen die Auswirkungen des Marktmechanismus. In dieser reinen Form wurde der Goldstandard allerdings nie praktiziert. Statt dessen gaben die Zentralbanken unter Beibehaltung ihrer Souveränität Papiergeld aus, und diese nationalen Währungen wiederum spielten eine tragende Rolle bei der Festigung des Nationalstaats als politische und wirtschaftliche Einheit. Es wurde geradezu zum Kriterium für staatliche Souveränität, über eine die Währung kontrollierende Zentralbank zu verfügen. In Währung und Nationalbank drückte sich somit nicht nur der neue Nationalismus aus, sondern sie federten auch die Auswirkungen des Goldstandards auf die Einkommen und die Arbeitsplätze ab.
Ihren Scheitelpunkt erreichte die Freihandelsbewegung in der 1870ern, als es mit den abgeschotteten Handelsblöcken, die noch aus der Epoche der Kolonialisierung vor 1800 stammten, zu Ende ging. Zwar kam es nie zur vollständigen Handelsfreiheit, denn nur England und die Niederlande beseitigten sämtliche Beschränkungen. Doch stand die Welt um 1870 kurzzeitig dicht vor einem vollständig selbstregulierenden System im Sinne der klassischen Wirtschaftswissenschaft.[27]
Wenn wir also im 19. Jahrhundert den ersten Anlauf zu einer internationalisierten Marktwirtschaft erlebt haben, so zeigte sich dies auch in einer enormen Ausweitung der Warenströme sowie der Bewegungen von Kapital und Arbeitskräften. Das war natürlich zu erwarten, war doch ständiges Wachstum eine Existenzbedingung der neuen Marktwirtschaft, und dazu mussten zunächst die Binnenmärkte und dann der Weltmarkt unablässig wachsen. So hat sich das Außenhandelsvolumen von 1830 bis 1850 verdoppelt, um bis 1880 noch einmal um den Faktor 3-4 anzuwachsen; die jährlichen Wachstumsraten betrugen in den Jahren 1840-70 bis zu 5,3%.[28] Und während vom Ende der napoleonischen Kriege bis Mitte der 1850er Jahre ca. $ 2 Mrd. im Ausland investiert wurden, hatte sich dieser Wert 1870 bereits verdreifacht und war bis 1900 auf 23 Mrd., bis 1914 sogar auf $ 43 Mrd. angewachsen.[29] Die Summe der Wanderungsbewegungen von 1821 bis 1915 betrug 51 Mio. Menschen.[30]
Offensichtlich spielten also der Außenhandel und der freie, grenzüberschreitende Fluss von Kapital und Menschen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der neuen Marktwirtschaft zu einer Wachstumswirtschaft. Offen ist allerdings noch die Frage, wie weit das Wirtschaftswachstum eines Landes von der Existenz einer Weltwirtschaft abhing. Auf jeden Fall erfolgte der Wandel in den einzelnen Ländern mit sehr unterschiedlichem Tempo, je nachdem wie flexibel die jeweiligen Märkte waren.[31] Dies ist auch der Grund dafür, dass dieser erste Versuch in der Geschichte, eine liberale internationalisierte Marktwirtschaft zu schaffen, scheiterte.
Protektionismus und Nationalismus
Dieser Versuch - Freihandel, Goldstandard und freie Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt - dauerte nur 40 Jahre, und in den 1870ern und 80ern wurden erneut Schutzgesetze erlassen. So führte der Versuch einer Liberalisierung der Märkte - Phase 1 des Prozesses der Vermarktwirtschaftlichung - paradoxerweise zu einem verstärkten Protektionismus. Die Besitzer der Produktionsmittel drängten auf Schutz vor der ausländischen Konkurrenz, während die übrige Gesellschaft sich vor dem Marktmechanismus selbst zu schützen suchte. Wie ich gleich genauer ausführen werde, untergruben beide Bestrebungen den Prozess der Ausbreitung der Marktwirtschaft.
Diese Entwicklung, die den Herren über die Marktwirtschaft in den 1880ern Schutzzölle sowie andere Handelsschranken aufzwang, wurde zunehmend auch durch den gleichzeitig anlaufenden nationalistischen Trend gefördert, so dass im Jahre 1913 nur noch Großbritannien, die Niederlande und Dänemark am Freihandel festhielten. Dennoch nahm das Handelsvolumen weiter zu, wenn auch langsamer als in der Frühzeit (1840-70). Im Zeitraum 1840-1914 wuchs der Welthandel mit 3,4% p.a. wesentlich rascher als die Produktion (2,1% p.a.). Hatte das Außenhandelsvolumen um 1800 nur 3% des Produktionsvolumens betragen, so war dieser Anteil bis 1913 auf 33% gestiegen.[32]
Unter dem gleichen Protektionismus weiteten sich aber auch die sozialen Marktkontrollen aus. 1871 mussten sogar die britischen Liberalen sich zur Wiederzulassung der Gewerkschaften bequemen. Und nicht zufällig durchliefen neben England auch Frankreich und Preußen die gleichen Stadien: laissez-faire, gefolgt von antiliberaler Gesetzgebung auf den Gebieten Gesundheitswesen, Arbeitsbedingungen, Sozialversicherung, Öffentliche Dienst- und Versorgungsleistungen etc. „Um die Wende zum 20. Jahrhundert erließen sowohl in Europa wie auch in den USA die Regierungen Gesetze zur Einschränkung des laissez-faire - zunächst durch Fabrikinspektionen und ein Mindestmaß an Schulbildung, später durch Gewähr eines existenzsichernden Einkommens der Alten und Arbeitslosen“.[33] Somit unterlagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch alle entwickelten Marktwirtschaften einer gewissen Sozialgesetzgebung.[34]
War zu Beginn des 19. Jahrhunderts die herrschende Denkrichtung (liberaler Nationalismus, Freihandel etc.) noch internationalistisch gewesen, so setzte also um 1870 ein Wandel zum national(istisch)en Liberalismus ein, der sich nach außen in Protektionismus und Imperialismus äußerte. Am Ende der großen Wirtschaftskrise von 1873-76, die auch das Ende des ersten rein wirtschaftsliberalen Experiments einläutete, hatte Deutschland ein umfassendes Sozialversicherungssystem eingeführt und hohe Zollschranken aufgerichtet; in den USA waren - Marktfreiheit hin oder her - die Zollschranken sogar noch höher.
Entsprechend stärkten beide Arten des Protektionismus (Schutzzölle wie soziale Kontrollen) den Trend zum Nationalismus, der die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte, vor allem bei den „verspäteten Nationen“ Deutschland und Italien. Es war aber nicht so, dass die Sehnsucht nach dem Nationalstaat ausschließlich das Bedürfnis der Wirtschaftsherrscher nach Abschaffung der - ihre freie Entwicklung unerträglich einschränkenden - Handels- und Industriegesetze widerspiegelte, auch wenn Engels die Geburt des deutschen Nationalstaats wie folgt kommentiert:
Das Verlangen nach einem einheitlichen „Vaterland“ [besaß] einen sehr materiellen Hintergrund (...) Es war das aus der unmittelbaren Geschäftsnot hervorbrechende Begehren des praktischen Kaufmanns und Industriellen nach Wegfegung all des historisch überkommenen kleinstaatlichen Plunders, der der freien Entfaltung von Handel und Gewerbe im Wege stand.[35]
Nachdem also der Nationalstaat sich in der geschichtlichen Entwicklung gegen die Alternative der föderalen Organisation durchgesetzt hatte, erblickte man in ihm die einzige Gesellschaftsform, die den nötigen Schutz bieten konnte- dem heimischen Kapital gegen die Auslandskonkurrenz, den Arbeitern und Grundbesitzern gegen die schädlichen Auswirkungen des Binnenmarktes. Man kann also die Ausbreitung des Nationalismus nicht von der Entstehung des Nationalstaats und der Marktwirtschaft trennen; das eine war so „unvermeidlich“ wie das andere. Anders gesagt, wer im Nationalismus einen inhärenten Aspekt der Moderne sehen will,[36] der drückt damit nur aus, dass für ihn die Geschichte gar nicht anders verlaufen konnte, als es de facto geschah. Gerade diese Sichtweise ist aber nicht unproblematisch.
Der Protektionismus führt zum Etatismus
Nachdem der Protektionismus in seinen beiden Ausprägungen die im 19. Jahrhundert eingeführte Marktwirtschaft untergraben hatte, führte er im 20. Jahrhundert ihren fast völligen Zusammenbruch herbei. Die Binnenmärkte wurden durch Preisverzerrungen und Eingriffe in die Selbstregulierungsmechanismen untergraben, mit dem Ergebnis, dass „unangepasste Preis- und Kostenstrukturen die Wirtschaftskrisen verlängerten, unangepasste technische Ausrüstungen die Liquidierung unprofitabler Investitionen verzögerten [und] unangepasste Preis-Einkommens-Verhältnisse zu sozialen Spannungen führten“.[37] Dem Weltmarkt andererseits schadeten die kolonialistischen Rivalitäten und der Kampf um noch ungeschützte Märkte. So lösten also die protektionistischen Maßnahmen den Zerfall der Weltwirtschaft aus, die als Fundament des Kräftegleichgewichts im 19. Jahrhundert gedient hatte, und damit beinahe den Zusammenbruch des ganzen Systems. Wie Polanyi gezeigt hat,[38] hing der „hundertjährige Friede“ (1815-1914) entscheidend von der Handelsfreiheit und der Freiheit der Kapitalflüsse ab. Nachdem die über der Kolonialfrage aufbrechenden Rivalitäten diese beiden Freiheiten beeinträchtigt hatten, war der Erste Weltkrieg nicht mehr zu verhindern.
Im Gefolge der protektionistischen Politik zerbrach nicht nur das Kräftegleichgewicht. Auch der Goldstandard, der die Stabilität der Wechselkurse garantierte, war dem Ansturm des Protektionismus nicht gewachsen. Denn sein Regelungsmechanismus (durch den Ungleichgewichte in der Zahlungsbilanz unter den beteiligten Ländern beseitigt werden sollten ) konnte nur dann effizient arbeiten, wenn die notwendigen Anpassungen über „Nominalvariable“ wie Preis, Lohn, Zinshöhe erfolgten, nicht aber über die sozial und ökonomisch erheblich schmerzhafteren „Realvariablen“ Produktion und Beschäftigung. Nun führen aber alle protektionistischen Maßnahmen - seien es Markteingriffe (z.B. Zölle) oder gesellschaftliche Schutzmaßnahmen (Sozialversicherung, Gewerkschaftsrechte etc.) zu Preis- und Lohnverzerrungen, verhindern also das effiziente Funktionieren des Anpassungsmechanismus, der ohne Lohn- oder Beschäftigungskorrekturen nicht auskommt.
In den 1920er Jahren wurden weitere Hemmnisse für die Selbstregulierungsfunktion der Marktmechanismen eingeführt,[39] und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen (Schutz der Währungsparitäten), sondern auch aus politischen Gründen, insbesondere zum Abbau sozialer Spannungen als Reaktion auf die russische Revolution von 1917. Das Lohnniveau wurde „zu starr“. So berichtet Moggridge, in Großbritannien sei es „durch den Generalstreik von 1926 unmöglich geworden, Löhne und Kosten nennenswert zu senken, weil jeder Versuch dazu mit untragbaren sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten belastet war“.[40] So wurde der Zusammenbruch des Goldstandards in den 30er Jahren unvermeidlich, womit das Signal für den Aufstieg des Etatismus gegeben war. Denn wenn der Staat seine wirtschaftliche Rolle stärken wollte, musste der Goldstandard aufgegeben werden, schon weil das Hauptinstrument des Staates - das Budgetdefizit - mit der Grundregel des Goldstandards unvereinbar war, der zu Folge jedes Land seine Wirtschaftspolitik dem Ziel einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz unterzuordnen hatte. So mussten etwa während der Weltwirtschaftskrise Länder mit defizitärer Zahlungsbilanz zu noch deflationäreren Maßnahmen greifen, nur um das Außengleichgewicht wieder herzustellen - und dies zu einer Zeit, da Millionen Menschen ohne Arbeit waren und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit eigentlich Expansion statt Deflation erfordert hätte.
Letztlich spiegelte der Zusammenbruch des Goldstandards nur die Auflösung der Weltwirtschaft wider, wie sie sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Folge der antiliberalen Gesetzgebung (Fabrikgesetze, Arbeitslosenunterstützung), der gewerkschaftlichen Aktivitäten etc. und der damit verbundenen gravierenden Verzerrungen der Marktfunktion abgespielt hatte. Die Marktwirtschaft hatte in dem Maße, wie sich die Gesellschaft vor ihr geschützt hatte, an Vitalität verloren, um dann während der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre fast völlig zusammenzubrechen. Wie Polanyi (nach Goldfrank) betont, muss als eigentlicher Auslöser dieses Zusammenbruchs - der dann zum Etatismus führte - das Scheitern des reinen Liberalismus angesehen werden:
Als der Weltmarkt die Nationen immer stärker in sein Netz zog, griffen die mächtigeren unter ihnen zum Mittel der Sozialgesetze, Schutzzölle und anderer protektionistischer Maßnahmen, um die Folgen des ungleichen Tausches abzufedern. Doch vom Protektionismus und Imperialismus war es nur ein kleiner Schritt zum Weltkrieg, und von dem fehlgeleiteten Versuch, nach dem Krieg den Goldstandard wieder einzuführen, nur ein kleiner Schritt bis zur großen Krise.[41]
Der Prozess der Vermarktwirtschaftlichung - die etatistische Phase
Der Zerfall der Weltwirtschaft und der Zusammenbruch des Goldstandards führte in allen größeren Ländern dazu, dass der Staat die Kontrolle über die Wirtschaft übernahm. Diese Periode des Etatismus stellte eine weitere Phase der Vermarktwirtschaftlichung dar und folgte eigentlich logisch zwingend aus dem Protektionismus der Kriegs- und Nachkriegszeit,[42] der seinen Höhepunkt in den 30er Jahren erreichte, als der Welthandel direkten Beschränkungen in der Form von Ein- und Ausfuhr-Genehmigungen, Quotenregelungen, Devisenbewirtschaftung etc. unterworfen wurde.
Die extremste Ausprägung dieses Etatismus finden wir natürlich im stalinistischen Russland, wo man zum ersten Mal seit dem Auftreten der Marktwirtschaft den „systemischen“ Versuch unternahm, den Prozess der Vermarktwirtschaftlichung zurückzudrehen. Durch die Kollektivierung in den 30er Jahren wurde der Boden dem Markt entzogen. Auch dies kann man übrigens auf den Zerfall der Weltwirtschaft zurückführen, da diese die russischen Agrarüberschüsse nicht mehr aufnehmen konnte, Russland infolgedessen keine Maschinen aus dem Westen mehr importieren konnte und somit seine eigene Industrialisierung gefährdet sah. Sodann fanden im Zuge der Fünfjahrespläne die wesentlichen wirtschaftlichen Entscheidungen nicht mehr unter Marktbedingungen statt. Leider hatte die Gesellschaft selbst genau so wenig Einfluss darauf. Vielmehr war die ökonomische und politische Macht bei der kommunistischen Parteibürokratie konzentriert (s. Kapitel 2), und da man das Lohnsystem nicht abschaffte, brachte der gesamte osteuropäische Staatssozialismus - was die Machtverteilung angeht - nur einen Austausch der Elite mit sich statt ihrer Abschaffung. An die Stelle der Kapitalisten, welche die Wirtschaft indirekt, nämlich über das Marktsystem, kontrolliert hatten (was, wie und für wen produziert werden soll), traten einfach die Bürokraten, die mit ihrem zentralistischem Planungssystem die Wirtschaft direkt kontrollierten.
Doch nicht nur nach Russland (und nach dem Zweiten Weltkrieg in einige andere Länder an der Peripherie des Kapitalismus) drang der Etatismus vor. Etwa zwischen 1935 und 1975 waren in allen kapitalistischen Ländern staatliche Eingriffe in den Markt die Regel - zwar nicht so massiv wie im Osten und nicht als „Systemwechsel“, doch mit der gleichen Zielrichtung, vor allem seit dem Ende des Krieges. Man wollte eben nicht nur der Privatwirtschaft - unter Beachtung eines Minimums an sozialen Kontrollen - zum Erfolg verhelfen (so wie bei Clinton oder bei Tony Blairs New Labour Party), sondern man wollte diesen Sektor komplett übernehmen, vor allem dort, wo er bei der Versorgung der breiten Bevölkerung versagt hatte, also bei den öffentlichen Dienst- und Versorgungsleistungen (Gesundheit, Schulwesen, Sozialversicherung etc.).
Ich möchte die gesamte etatistische Phase der Vermarktwirtschaftlichung in zwei Teilperioden gliedern, nämlich in die Zeit von 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit bis zur Mitte der 70er Jahre.
Der Vorkriegs-Etatismus
Als in der Großen Depression, die auf den Börsenkrach von 1929 folgte, die Marktwirtschaft in eine allgemeine Krise geriet, wurden damit auch die Grundlagen für den Etatismus gelegt, mit dessen Hilfe verschiedene Staaten versuchten, aus der Depression heraus zu kommen. Am drastischsten geschah dies in Nazi-Deutschland. Schon lange vor der Umstellung auf eine Kriegswirtschaft war dort „der freie Markt in erheblichem Maße ausgeschaltet worden“.[43] Im einzelnen geschah dies durch Budgetdefizite und Geldschöpfung (wie sie bereits 10 Jahre vor Hitler zur Hyperinflation geführt hatten), durch Preis- und Lohnkontrollen, staatliche Investitionslenkung etc. Und selbst in den USA, dieser Bastion des freien Unternehmertums, brachte Roosevelts New Deal gezielte Dollarabwertungen, staatliche Eingriffe in die Lohn-. und Preisbildung, große öffentliche Bauprojekte und erhöhte Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung mit sich. In ganz ähnlicher Weise griff auch in anderen Ländern, so etwa Frankreich oder Schweden, der Staat in den Preismechanismus ein, anstatt - wie vom orthodoxen Liberalismus gefordert - durch ein ausgeglichenes Budget seine wirtschaftspolitische Neutralität zu demonstrieren.
Obgleich all diese Ansätze eines staatlichen Interventionismus in der Zwischenkriegszeit ihr Ziel erreichten und die Marktwirtschaft vor dem Zusammenbruch retteten, so waren sie doch restlos antiliberal, denn sie wollten den Prozess der Vermarktwirtschaftlichung nicht fördern, sondern bändigen. Ein weiterer Erfolg zeigte sich darin, dass Produktion und Arbeitsplätze ohne Inflation oder andere Begleitprobleme geschaffen werden konnten. War also damit, wie die Sozialdemokratie verkündet, der Beweis erbracht, dass eine wirksame gesellschaftliche Kontrolle der Märkte eben doch möglich ist? Schaut man genauer auf die Hintergründe dieser Erfolgsgeschichte, so muss die Antwort negativ ausfallen.
Zunächst darf man nicht übersehen, dass der betrachtete Zeitraum schon insofern atypisch war, als damals die Marktwirtschaft geradezu vor der Vernichtung stand. Das „Vertrauen der Wirtschaft“ war auf einem Tiefpunkt angelangt, was vielleicht auch erklärt, dass die Herren über die Produktion sich gegenüber Maßnahmen zur Eindämmung ihrer Macht und ihrer Profite so tolerant zeigten. Mehr noch: Wie die folgenden Beispiele belegen, konnten diese Maßnahmen überhaupt nur so lange erfolgreich sein, wie sie in Wirtschaftskreisen auf Zustimmung stießen.
So reagierte das US-Kapital zunächst wohlwollend auf Roosevelts Budgetdefizite und trug damit signifikant zu der ersten Erholungsphase der Jahre 1934-36 bei. Kaum war diese Erholung in Gang gekommen, als die Stimmung auch schon umschlug, die Kapitalisten erneut auf Haushaltsausgleich drängten und 1937-38 prompt die nächste Rezession einsetzte.[44]
In Deutschland konnte die Wirtschaftspolitik der Nazis trotz ihres noch stärker ausgeprägten Etatismus (z.B. direkte Investitions- und Preiskontrollen bei jedem einzelnen Unternehmen) deshalb so erfolgreich sein, weil (nach Bleaney) „die Wirtschaft die Nazis bei weitem der Revolution vorzog - eine Erwartung, die mit dem Verbot der Gewerkschaften und aller anderen politischen Parteien umgehend honoriert wurde“.[45]
In Frankreich andererseits, wo sich die linke Volksfront in drastisch etatistischer Weise an Sozialreformen (Arbeitszeitverkürzung, bezahlter Urlaub etc.) und Einkommensumverteilung zu Gunsten der Arbeiterklasse versuchte, scheiterte sie kläglich. Zwar ging die Arbeitslosigkeit deutlich zurück, doch weil diejenigen, die die Produktion lenkten, die erhöhten Kosten auf die Preise abwälzten und die Regierung wirksame Preiskontrollen nicht durchsetzen konnte, schoss die Inflation in die Höhe. Auch blieb die wirtschaftliche Erholung aus, denn das Kapital reagierte auf den teilweise sozialistischen Charakter der Maßnahmen der Volksfront mit der bekannten Taktik aus Investitionsverweigerung und Flucht über die Landesgrenzen.
Wir können also folgern, dass sich Erfolg oder Misserfolg des Etatismus der Zwischenkriegszeit nicht - wie Liberale und Marxisten immer meinen - an rein wirtschaftlichen, sondern an politischen Faktoren entschieden. Passt der erweiterte staatliche Einfluss auf die Wirtschaft den Herren über die Produktion (ist „das Vertrauen der Wirtschaft“ gegeben, wie der Euphemismus lautet) - oder passt er ihnen nicht?
In Deutschland endete der mit dem Etatismus der Nazis verbundene Angriff auf die Marktwirtschaft ruhmlos in den Ruinen des „Dritten Reichs“. Mehr Glück hatte der im Westen entwickelte Etatismus, dem nach Kriegsende eine 30jährige Blütezeit beschieden war. Allerdings unterschieden sich diese beiden Varianten des Etatismus erheblich voneinander, indem der eine aus politischen und militärischen Gründen nationalistisch, der andere stärker internationalistisch geprägt war, wie auch Polanyi in anderem Zusammenhang ausführt.[46] Das Nachkriegsmodell des westlichen Etatismus war nämlich eine Weiterentwicklung des Modells der Zwischenkriegszeit.
Wie zu erwarten war, erreichte der Etatismus während des Krieges einen Höhepunkt. Die durch den Krieg erzwungene staatliche Planung demonstrierte gleichzeitig die Möglichkeiten, die sich im Frieden aus einer gezielten gesellschaftlichen Steuerung der Wirtschaft eröffnen könnten. Da sich (als Folge des Fehlschlags der Marktwirtschaft in den 30er Jahren und der Niederlage des Faschismus im Kriege) die Wähler radikalisierten, erfuhr der Etatismus einen neuen Schub.
Der sozialdemokratische Konsens
Dieser Nachkriegs-Etatismus nahm die Form die Wohlfahrtsstaats an und endete Mitte der 70er Jahre. Seine Grundlagen wurden in Großbritannien gelegt, dem Lande, das schon immer ein „Barometer der Vermarktwirtschaftlichung“ gewesen ist. Der Startschuss erfolgte durch den Beveridge-Report, der es sich ausdrücklich zum Ziel setzte, „soziale Sicherheit für Alle von der Wiege bis zum Grabe zu schaffen“.[47] Er erschien 1942 und stellte den bewussten Versuch dar, die Nebenwirkungen der Marktwirtschaft in Bezug auf die Grundbedürfnisse der Menschen (Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit) unter Kontrolle zu halten. Zwei Jahre darauf läutete die von den Konservativen dominierte Koalitionsregierung den so genannten Sozialdemokratischen Konsens ein und gab ein Weißbuch zur Arbeitsmarktpolitik heraus. Darin wurde die Regierung dazu verpflichtet, durch Steuerung der Gesamtnachfrage, also durch Marktmanipulationen, für Vollbeschäftigung zu sorgen - eine Verpflichtung, an die sich bis zum Aufkommen des Neoliberalismus alle folgenden Regierungen, gleich welcher politischen Färbung, gebunden sahen. In dieser Verpflichtung drückte sich das Eingeständnis aus, dass der Markt zu einer Selbstregulierung - zumindest bei Produktion und Arbeitsmarkt - nicht fähig sei. Auch das Employment Act der US-Regierung von 1946 setzte sich als oberstes Ziel die „Maximierung der Arbeitsplätze“, und vergleichbare Regelungen hielten Ende der 40er Jahre in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Einzug. Somit markiert diese Zeit den Beginn des Sozialdemokratischen Konsenses, der bis in die 70er Jahre anhalten sollte.
Es wird manchmal behauptet, dieser aus der Nachkriegszeit stammende Konsens sei nur ein Konjunkturphänomen gewesen. Er stellte aber einen Strukturbruch dar, der sich sowohl auf den hier behandelten Feldern des Sozialen, Politischen und Ideologisch-Theoretischen als auch im Kulturleben auswirkte.
Auf der politischen Ebene wurde der Konsens von den sozialdemokratischen Parteien und den Gewerkschaften aktiv unterstützt und vom Kapital und seinen politischen Vertretern toleriert. Daher erfolgte auch dann, wenn auf eine sozialdemokratische eine konservative Regierung folgte, kein wesentliches Abweichen von der sozio-ökonomischen Rolle des Staates gegenüber dem Markt. Vielleicht wurden hier und da verstaatlichte Unternehmen reprivatisiert, vor allem in Großbritannien, doch im übrigen verfolgten alle Regierungen der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt eine Politik der Vollbeschäftigung und bemühten sich um die Ausweitung des Wohlfahrtsstaates wie überhaupt des ganzen öffentlichen Sektors. Explizit oder implizit war auch die Alte Linke in diesen Konsens eingebunden, während jene Parteien und Organisationen, mit deren Zielen dieses ganze institutionelle Netz unvereinbar war, sich in außerparlamentarische Aktionen oder Alternativkulturen bis hin zur Stadtguerilla flüchteten, also in hilflose und widersprüchliche Versuche, Katalysatoren für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel zu bilden.
Auf wirtschaftlicher Ebene ruhte der Sozialdemokratische Konsens auf der modernen Industriegesellschaft, die sich auf ihrem Höhepunkt nach dem Krieg durch Massenproduktion, große Produktionseinheiten, bürokratische Organisation und Massenkonsum auszeichnete. In diesem Prozess intensiver Akkumulation über einem wachsenden Binnenmarkt spielte der Staat die entscheidende wirtschaftliche Rolle, nicht nur indirekt als Wohlfahrtsstaat und durch die Fiskalpolitik, sondern auch durch direkte Einflussnahme auf die Produktion mittels öffentlicher Investitionen und der im Staatsbesitz befindlichen Industrie. Da die Wirtschaft zu jener Zeit noch nicht so internationalisiert war wie später und der Staat bei der Umsetzung seiner Wirtschaftspolitik noch über größere „Freiheitsgrade“ verfügte, war diese Rolle des Staates einerseits realistisch, andererseits erwünscht. Solange der Investitionsboom der Nachkriegszeit anhielt, störten die damit unweigerlich verbundenen Haushaltsdefizite den Akkumulationsprozess auch nicht sonderlich.
Die Periode des Sozialdemokratischen Konsenses war überhaupt von einem nie da gewesenen Aufschwung begleitet. War das Pro-Kopf-Einkommen im Zeitraum 1820-1950 im Jahresdurchschnitt um 1,8% gestiegen, so betrug die jährliche Zunahme zwischen 1950 und 1970 3,8%. Die Kapitalakkumulation betrug 1870-1913 2,9%, 1913-1950 1,7% und 1950-1970 aber 5,5% p.a.[48] Auch wenn wir die Streitfrage bei Seite lassen, ob vielleicht zwischen den verstärkten wirtschaftlichen Aktivitäten des Staates und der Tatsache des Aufschwungs ein kausaler Zusammenhang gegeben ist,[49] so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass das Allzeit-Tief der Arbeitslosenzahlen während des hier betrachteten Zeitraums nicht unwesentlich dem Etatismus zu verdanken war. Diese niedrige Arbeitslosigkeit war eben nicht nur eine Folge der Budgetdefizite, auch wenn dies fälschlicherweise behauptet wird. Im Großen und Ganzen waren nämlich während des Sozialdemokratischen Konsenses die Haushalte der OECD-Staaten ausgeglichen.[50] Das hohe Beschäftigungsniveau lässt sich besser durch die allgemeinen wirtschaftlichen Auswirkungen des Etatismus erklären, da ja mit einer antizyklischen Interventionspolitik des Staates gute Geschäftserwartungen verbunden sind.[51] Ein weiterer Faktor waren die zahlreichen Kündigungsschutzregelungen, mit denen Entlassungen - vor allem innerhalb der nationalisierten Wirtschaftszweige - verhindert wurden, weshalb es dort auch einen notorischen Personalüberhang gab. Dementsprechend entwickelten sich die Arbeitslosenquoten wie folgt: 1870-1913 im Durchschnitt 5,7%, 1913-1950 7,3%, 1950-1970 nur 3,1%.[52] Parallel dazu weitete sich der Wohlfahrtsstaat rapide aus, bis Anfang der 70er Jahre in den entwickelten kapitalistischen Ländern (ausgenommen Japan) ca. ein Fünftel des Brutto-Inlands-Produkts (BIP) in die Sozialleistungen floss.[53] Ein sprechendes Beispiel sind die Sozialausgaben in Großbritannien, deren Anteil am BIP von 4% im Jahre 1910 über 11% zwischen den beiden Weltkriegen bis auf ca. 25% Anfang der 70er anstieg.[54]
Auf der Ebene der sozialen Verhältnisse verstand man unter dem Sozialdemokratischen Konsens einen relativ sicheren Arbeitsplatz, ein vergrößertes Angebot an Arbeitsplätzen (vor allem für Frauen, als Folge des Krieges) und überhaupt den Glauben an ein ungehindertes Wirtschaftswachstum und den weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Diese Faktoren sowie die immer noch vorhandene zahlenmäßige Stärke der Arbeiterklasse hatten eine starke Gewerkschaftsbewegung hervorgebracht, und diese wiederum übte mittels ihrer Leitungsbürokratien sowie inoffizieller Strukturen (z.B. die shop stewards in Großbritannien) einen beträchtlichen Einfluss auf den Arbeitsmarkt aus. In diesem Klima konnten sich auch die machtvollen Befreiungsbewegungen der Frauen, Studenten und ethnischen Minderheiten formieren. In der Tat gerieten die gesellschaftlichen Institutionen in eine Krise, indem mächtige soziale Gruppierungen geradezu die Grundlagen der modernen hierarchischen Gesellschaft hinterfragten: die patriarchalische Familie, die autoritären Schulen und Universitäten, die Hierarchien in Fabriken und Büros, aber auch die Gewerkschafts- und Parteibürokratien. Im Grunde stellten all diese Bewegungen den vorgeblich demokratischen Charakter des gesellschaftlichen Alltags in Frage.
Grundlage dieses gesellschaftlichen Konsenses war ein - zuweilen stillschweigendes - Übereinkommen zwischen Kapital und Gewerkschaften bzw. zwischen den ihnen jeweils entsprechenden politischen Parteien über die Aufrechterhaltung einer Mischwirtschaft, also desjenigen Wirtschaftssystems, das den Sozialdemokratischen Konsens widerspiegelte. Zu dem Konsens gehörte die Verpflichtung des Staates, ein hohes Beschäftigungsniveau sowie „sozial angemessene Bezahlung“ (in Form der sozialen Leistungen) zu garantieren; die Gegenleistung der Gewerkschaften bestand darin, die Forderungen der Arbeitnehmer so weit zu dämpfen, dass die realen Lohnzuwächse (Lohnprozente minus Inflationsrate) nicht die Zunahme der Produktivität überstiegen. Gewöhnlich äußerte sich diese Übereinkunft in Lohn- und Preiskontrollen, denn vor allem mit diesen hielt man während des Sozialdemokratischen Konsenses die Inflation in Schach, ohne dabei die Gewinne der Unternehmen zu schmälern.
Blicken wir schließlich auf die ideologisch-theoretische Ebene, so hatte nach dem Krieg der Keynesianismus (also der sozialdemokratische Reformtrend innerhalb der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft) einen glänzenden Sieg über den konservativen neo-klassischen Trend (der vor dem Krieg die früheren Phasen der Vermarktwirtschaftlichung beherrscht hatte) davongetragen. Somit war der Sozialdemokratische Konsens auch in den Gesellschaftswissenschaften fest verwurzelt. Grundsatz der neuen Wirtschafts-Orthodoxie sowohl in der Theorie als auch in der Politik war eine staatliche (makroökonomische) Einflussnahme auf den Markt mit dem Ziel, Vollbeschäftigung und maximales Wirtschaftswachstum zu sichern und gleichzeitig eine gewisse Umverteilung zu Gunsten der schwächeren Einkommensschichten zu erreichen.
Man könnte also sagen, dass am Ende des Sozialdemokratischen Konsenses viel von dem erreicht war, was Polanyi die Große Transformation genannt hatte. Das Marktsystem stand unter spürbarer sozialer Kontrolle, vor allem die Kapital- und Arbeitsmärkte. Nicht nur über die Zahl der Arbeitsplätze, sondern auch über die Löhne und Arbeitsbedingungen wurde außerhalb des Marktes entschieden - nämlich durch Fiskalpolitik sowie Lohn- und Preiskontrollen im Rahmen dreiseitiger Abkommen zwischen Kapital, Arbeitnehmern und der Regierung. Auf der Kapitalseite verblieben zwar sowohl das Sparen als auch die Investitionen im Bereich des Marktes, doch betrieb die Regierung mit Hilfe aktiver Geldpolitik oder Kapitalkontrollen sowie direkter oder indirekter Investitionskontrollen eine Beeinflussung der Sparrate bzw. eine Steuerung der Investitionen.
Nachdem der Goldstandard - als mit jeder Art von Etatismus unvereinbar - aufgegeben war, überließ man die Bewertung der Währungen allein den Devisenmärkten. In einem solchen System freier Wechselkurse hatte der Staat mehr Möglichkeiten, in die Wirtschaft einzugreifen, was natürlich besser zum Etatismus passte. Andererseits sah man in der mit den Wechselkursschwankungen verbundenen Unsicherheit eine Einschränkung der Entwicklungsmöglichkeiten des Außenhandels, und so wurde dieses System unmittelbar nach Kriegsende abgeschafft und durch ein System kontrollierter Flexibilität ersetzt.
Dieses System, dem das Abkommen von Bretton Woods von 1944 zu Grunde lag, sollte sowohl den Anforderungen des Etatismus als auch dem Wunsch nach Handelsfreiheit gerecht werden; es stellte daher einen Kompromiss zwischen dem Goldstandard und dem System flexibler Wechselkurse dar. Ein solches Währungssystem sollte einerseits mit dem Modell des internationalen Etatismus, wie es sich bereits vor dem Krieg herausgebildet hatte, kompatibel sein, also die Souveränität der Regierungen über ihre Binnenwirtschaftspolitik sicher stellen, es sollte andererseits aber auch für Stabilität der Wechselkurse sorgen. Hierin war es nur anfangs erfolgreich; seine inneren Widersprüche - vor allem die eingebaute Dominanz des US-Dollars, die in dem Maße unhaltbar wurde, in dem Japan und Deutschland zu Wirtschaftsmächten aufstiegen - ließen es zu Beginn der 70er Jahre zusammenbrechen, was wiederum nicht wenig zum Niedergang des Etatismus beitragen sollte. Die Nationalstaaten konnten nämlich ihre wirtschaftliche Souveränität angesichts der nun wieder flexiblen Wechselkurse nur über Kapitalverkehrs- und Devisenkontrollen zu bewahren suchen. Diese Politik aber war, wie der ganze Etatismus, zum Scheitern verurteilt, sobald die Kontrollen unter dem Druck des Marktes aufgegeben werden mussten.
Die Internationalisierung der Wirtschaft und der Zusammenbruch des Etatismus
Bereits zu der Zeit, da der Etatismus sich auf nationaler Ebene noch auf dem Vormarsch befand, kam der internationale Prozess der Vermarktwirtschaftlichung - nach der Überwindung der Weltwirtschaftskrise und der darauf folgenden Blütezeit des Protektionismus - wieder in Gang. Waren- und Kapitalverkehrskontrollen wurden nach und nach aufgehoben. Die früheren wirtschaftlichen Rivalitäten unter den großen kapitalistischen Staaten wie auch ihre daraus resultierenden nationalen Rivalitäten, von denen die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen geprägt war, wurden rasch überwunden, und an ihre Stelle traten immer intensivere Handelsbeziehungen (vorwiegend untereinander). Während von 1948 bis 1973 die Produktion weltweit mit ca. 5% p.a. wuchs, betrug das Wachstum der Exporte 7% p.a.[55] Anfang der 70er Jahre stammte rund ein Fünftel der in Europa konsumierten Industrieprodukte aus Importen; der entsprechende Anteil, der 1937 und 1959 bei 6% gelegen hatte und bis 1963 auf 11% gestiegen war, erreichte 1971 den Wert von 17% und überstieg damit deutlich das Niveau von 1913, als es 13% gewesen waren.[56] Analog dazu wuchs der Exportanteil am BIP, der im Durchschnitt der Jahre 1945-1971 19% betragen hatte, über den Zeitraum 1974-1979 auf 26% an.[57]
Einer der Gründe, warum die entwickelten kapitalistischen Länder die Internationalisierung der Marktwirtschaft so aktiv betrieben, war die Ausbreitung des „real existierenden Sozialismus“ und der Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“. Im Grunde war die Internationalisierung jedoch eine Folge „objektiver“ dynamischer Faktoren der Marktwirtschaft, insbesondere des Aufkommens der transnationalen Unternehmen und des parallel dazu anschwellenden Eurodollar-Marktes. Letzterer stellte nämlich einen völlig unregulierten Raum bereit, in dem man unbehelligt von den Währungs- und Steuervorschriften der USA zunächst US-Dollar, später auch andere Hartwährungen wie Yen, DM etc. beschaffen oder ausleihen konnte. Das Wachstum dieses neuen Marktes, der eigentlich nur den Bedarf der transnationalen Konzerne reflektierte, setzte in den 70er Jahren, vor allem in Großbritannien, der Wiege des Eurodollar-Marktes,[58] aber auch in anderen Ländern die Kontrollmechanismen derart unter Druck, dass schließlich die Aufhebung aller Devisen- und Kapitalverkehrsbeschränkungen unvermeidlich wurde.
Wenn also in den Jahren nach dem Krieg die Voraussetzungen für den freien Kapital- und Warenverkehr geschaffen wurden (weltweit als GATT, regional als EWG und EFTA, innerstaatlich z.B. durch den Verzicht auf Kapitalverkehrs- und Währungskontrollen wie in den 70er Jahren in den USA und Großbritannien), dann wurde dadurch die internationalisierte Marktwirtschaft allenfalls institutionalisiert. Geschaffen wurde sie durch die ihr eigene Dynamik des „Wachse-oder-stirb“.
Da die zunehmende Internationalisierung es mit sich brachte, dass das Wachstum der Marktwirtschaft in erster Linie vom Wachstum des Weltmarktes und nicht mehr von dem der Binnenmärkte abhing, erfuhr die Rolle des Staates als Wirtschaftssubjekt einen einschneidenden Wandel. In der Zeit des Sozialdemokratischen Konsenses hatte der Binnenmarkt fast 90% der Nachfrage gedeckt, weshalb Wirtschaftswachstum gleichbedeutend mit Wachstum der Inlandsnachfrage war. Entsprechend bedeutsam war die Rolle des Staates in der Stimulierung der Gesamtnachfrage; das Instrumentarium dazu waren die Staatsausgaben und die Investitionen der Öffentlichen Hand ebenso wie das Gebaren der verstaatlichten Unternehmen. Dies konnte aber nur so lange funktionieren, wie der Grad der Internationalisierung niedrig genug war, um noch in die institutionalisierten Schutzmechanismen des Inlandsmarktes für Waren, Kapital und Arbeit zu passen. Indem die wachsende Internationalisierung der Marktwirtschaft diese notwendige Voraussetzung zu Fall brachte, bereitete sie auch dem Sozialdemokratischen Konsens ein zwangsläufiges Ende.
Diese Entwicklungen sind in den Tabellen 1.1 und 1.2 detaillierter dargestellt:
Tabelle 1.1
Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten in den einkommensstarken OECD-Ländern1 (in Prozent)
Periode
Regierungs-ausgaben2
Privater Konsum
Brutto-Inlands-investitionen
Exporte von Gütern und Dienstl.3
Brutto-Inlands-Produkt (BIP)
1960-70
4,8
4,3
5,6
8,4
5,1
1970-80
2,6
3,5
2,3
6,0
3,2
1980-93
2,1
3,0
3,4
5,1
2,9
1. Die von der Weltbank als „Volkswirtschaften mit hohem Einkommen“ klassifizierten OECD-Mitglieder USA, Kanada, Japan, Australien, Neuseeland, Schweiz, Norwegen, EU (ohne Griechenland und Portugal)
2. Ausgaben für den Kauf von Gütern und Dienstleistungen auf allen Regierungsebenen
3. Ausgenommen Faktordienste wie Einkommen aus Investitionen oder Arbeit sowie Zinsen
Quelle: Weltbank, World Development Report (div. Jahre)
Tabelle 1.2
Prozentuale Aufteilung des BIP in den einkommensstarken OECD-Ländern
Jahr
Regierungs-ausgaben1
Brutto-Inlands-Investitionen
Privater Verbrauch
Export von Gütern und Dienstl.2
1960
15
63
21
12
1965
15
61
23
12
1970
16
60
23
14
1978
18
60
22
18
1987
18
61
21
18
1993
17
63
19
20
1997
16
63
21
20
1. Siehe Anmerkungen zu Tab.1
2. Da die Importe nicht in der Tabelle enthalten sind, betragen die Zeilensummen mehr als 100 Prozent
Quelle: Weltbank, World Development Report (div. Jahre)
Wie man dort sieht, sind die Exporte durchweg schneller angestiegen als das BIP. Das besagt jedoch nichts über Exporte als Wachstumsmotor; es war nämlich immer so, und es gibt dafür ganz unterschiedliche theoretische Erklärungsversuche.[59] Um den Einfluss einer Nachfragekomponente (etwa der Exporte oder der Staatsausgaben) auf das Wirtschaftswachstum beurteilen zu können, dürfen wir nicht nur auf die Wachstumsraten schauen, sondern müssen sie mit ihrem Anteil an Nachfrage oder Einkommen gewichten (Tab. 1.2). So können wir aus einem Vergleich der beiden Tabellen folgendes schließen:
Von den 60er zu den 80er Jahren nehmen die Wachstumsraten stetig ab - bei den Staatsausgaben erheblich stärker als bei den Exporten.
Während sich der Exportanteil am Gesamteinkommen über die 3 Dekaden um zwei Drittel erhöhte, ging der Anteil der Staatsausgaben (nach einem Höchststand in den 80er Jahren) in den 90ern wieder zurück - und dies trotz zusätzlicher Leistungen zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit.
Während noch in den 60ern der Anteil der Staatsausgaben erheblich höher lag als der Exportanteil, hat sich dieses Verhältnis inzwischen ins Gegenteil verkehrt.
Bei zunehmender Internationalisierung kommt es nicht mehr auf die Nachfrage im Inland an, sondern es sind die Angebotsbedingungen, von denen die Handelsbilanz abhängt. Mehr und mehr bestimmen sie Akkumulation und Wachstum jeder Nationalwirtschaft, sei es positiv (Wachstum durch Exporte) oder negativ (Deindustrialisierung als Folge von Importen). Unter Freihandelsverhältnissen wird die Konkurrenz zum entscheidenden Faktor: Der Export kann das Wachstum anheizen, während gleichzeitig ein zunehmender Marktanteil von Importgütern zu Unternehmensschließungen und Arbeitslosigkeit führt. Kurz gesagt entwickelt sich die zunehmend internationalisierte Marktwirtschaft von einer „inlandsmarkt-gesteuerten“ zu einer „handelsgesteuerten“ Wachstumswirtschaft.
Bei einer solchen kommt es aber auf die Produktionsbedingungen an, und dort vor allem auf die Kosten. Ob Löhne, Steuern oder Versicherungsbeiträge - alles muss niedrig gehalten werden. Dies konnte aber nur auf Kosten des Etatismus gehen, der in den Zeiten des Sozialdemokratischen Konsenses die Produktionskosten in die Höhe getrieben hatte. Da war zum einen die direkte Erhöhung von Unternehmenssteuern und -abgaben unter dem Wohlfahrtsstaat (von 1955 bis 1970 wuchs in Großbritannien die Steuerbelastung der Gewinne - ohne Sozialversicherungsabgaben - von 44% auf 48,6%[60]). Und da waren zum anderen die indirekten Auswirkungen der Quasi-Vollbeschäftigung während der etatistischen Phase des Prozesses der Ausbreitung der Marktwirtschaft, die es beispielsweise den Arbeitnehmerorganisationen ermöglichten, Lohnzuwächse weit oberhalb des Produktivitätsanstiegs durchzusetzen. Besonders schmerzhaft bekamen dies die Herren über die Produktion in den Jahren 1968-73 zu spüren, als es nämlich über die Köpfe der Gewerkschaftsbürokratie hinweg zu einer breiten Streikbewegung kam, an deren Ende kräftige Lohnerhöhungen und entsprechende Gewinneinbußen standen. Während im Zeitraum 1960-68 in den führenden kapitalistischen Ländern Reallöhne nach Steuern und Produktivität gleichermaßen um 4% p.a. anstiegen, betrug die Wachstumsrate 1968-1973 bei den Löhnen 4,5%, bei der Produktivität aber nur 3,4%[61]; die durchschnittliche Umsatzrendite ging im selben Zeitraum um 15% zurück.[62]
Es war die Weigerung, die Marktwirtschaft ohne staatliches Eingreifen über Löhne und Arbeitsplätze entscheiden zu lassen - und nicht etwa die Oelkrise, wie immer behauptet wird - die zur Krise der frühen 70er Jahre führte. Die bis dahin erreichte Internationalisierung der Märkte war einfach nicht mehr mit dem Etatismus kompatibel, und zwar aus zwei Gründen:
(a) Angesichts einer zunehmenden Freiheit der Kapital- und Warenströme über die Grenzen hatte der Nationalstaat seine Einflussmöglichkeit auf die Wirtschaft weitgehend verloren. Solange der Kapitalverkehr noch nicht frei war, konnten die Regierungen eine unabhängige Wirtschaftspolitik verfolgen; daran änderte auch der zunehmend freie Handel nach dem Kriege nichts. Sobald sich jedoch die Finanzmärkte im Gefolge des Eurodollars von ihren Beschränkungen befreiten, konnten die multinationalen Unternehmen ihren Kampf gegen nationale Wirtschaftspolitiken, die ihren Zielen zuwider liefen, wesentlich effektiver führen.
(b) Mit dem Etatismus war fast automatisch ein gewisses Maß an Inflation und Gewinneinbußen verbunden, was natürlich angesichts der mit der internationalisierten Marktwirtschaft verbundenen Konkurrenz besonders schmerzte. Denn zum einen führte der rapide Anstieg der Ausgaben des Staates für die Finanzierung seiner sozialen und ökonomischen Aktivitäten, die teilweise das Steueraufkommen überstiegen, zu Haushaltsdefiziten mit inflationären Folgen.[63] Zum anderen versuchten die Unternehmer trotz „übertriebener“ (d.h. über den Produktivitätszuwächsen liegender) Lohnzuwächse ihre Gewinne dadurch zu sichern, dass sie die gestiegenen Arbeitskosten unter dem Vorwand der Ölkrise auf die Preise überwälzten. Dies wurde aber in dem Maße schwieriger, wie die Internationalisierung der Märkte und die damit verbundene Konkurrenz zunahmen. Folglich war Ende der 70er Jahre der Druck auf die Gewinne ärger als zuvor. So fiel in den europäischen OECD-Ländern die industrielle Gewinnmarge von 21,8% im Jahre 1968 über 20,9% 1973 auf 17,4% im Jahre 1979.[64]
Den mit den geschilderten Vorgängen sowie mit der Oelkrise verbundenen Inflationsdruck suchten die Regierungen mit der hergebrachten Deflationspolitik zu bekämpfen - was geradewegs in die „Stagflations“-Krise der 70er führte. Denn bei unverändert hohen Inflationsraten stieg auch die Arbeitslosigkeit beträchtlich an, weil die durch die Deflationsmaßnahmen ausgelösten kurzfristigen Arbeitsplatzverluste die Langfristarbeitslosigkeit noch verschärften, die sich inzwischen als Folge der einsetzenden Informationsrevolution ausgeweitet hatte.
Wir müssen also den Zusammenbruch des Etatismus und den Siegeszug des Neoliberalismus, dem wir uns im Folgenden zuwenden werden, im Kontext der wachsenden Internationalisierung der Marktwirtschaft sehen, mit der ein Etatismus nicht mehr zu vereinbaren war.
Der Prozess der Vermarktwirtschaftlichung - die neoliberale Phase
Das Aufblühen der neoliberalen Bewegung
Die Krise der 70 Jahre - verschärft durch die erneute Unsicherheit der Wechselkurse nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems - beflügelte die neoliberale Bewegung. Gründete sich die liberale Alte Rechte noch auf Tradition, Hierarchie und politische Philosophie, so hat sich die neoliberale Neue Rechte einem blinden Glauben an die Kräfte des Marktes, an den Individualismus und an eine „wissenschaftlich begründete“ Wirtschaft verschrieben.[65] Dabei wurde dem Individualismus eine neue Bedeutung verliehen: Sein Ziel sollte jetzt die Befreiung der Bürger aus ihrer „Abhängigkeit“ vom Wohlfahrtsstaat sein. Die Forderung aus den 60er Jahren nach einer freien, selbstbestimmten Gesellschaft wurde also umgemünzt in eine Forderung nach Selbstbestimmung über den Markt!
Zunächst zeigte sich die neoliberale Bewegung an den Hochschulen (die Chicago Boys, Hayek etc.), um dann unter Politikern vor allem in den USA und Großbritannien Fuß zu fassen. Wenn sich ihr Angriff nicht nur gegen den sozialdemokratischen Etatismus richtete, sondern sogar ein angeblich übertriebenes Demokratieverständnis für die Wirtschaftskrise verantwortlich zu machen suchte, so belegt das überzeugend die Unvereinbarkeit von Demokratie und kapitalistischer Wachstumswirtschaft. Zu nennen wären hier Samuel Huntingdon, Daniel Bell und J.M.Buchanan, die in ihrer Kritik des Sozialdemokratischen Konsenses eine „exzessive“ demokratische Partizipation (d.h. die für den Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit charakteristische gesellschaftliche Kontrolle über die Märkte) als Haupthindernis einer kapitalistischen Entwicklung anprangerten.[66] Bei Huntingdon haben Massenmobilisierung und unkontrollierte demokratische Mitbestimmung die Staatsausgaben derartig anschwellen lassen, dass die wirtschaftliche Entwicklung untergraben wurde. Bei Bell hat der Wohlfahrtsstaat, indem er einen schrankenlosen Konsumentenhedonismus ermöglichte, jene protestantische Ethik von Entsagung, Sparen und harter Arbeit entwertet, der der westliche Kapitalismus seine Existenz verdankt. Bei Buchanan schließlich suchen die politischen und staatsbürokratischen Eliten mit ihrer Kosten-Nutzen-Logik die Rolle des Staates einzig deshalb auszuweiten, weil sich die Korrupten unter ihnen davon finanzielle Vorteile, die Übrigen mehr politischen Einfluss versprechen. So verwundert es nicht, wenn Huntingdon et al. in einem Bericht an die Trilaterale Kommission (die sich aus Vertretern Europas, Japans und Nordamerikas zusammensetzte) behaupten, der „Ausbruch an Demokratie“ der 60er Jahre habe zu einem „Übermaß“ mit immer mehr Forderungen an die Regierungen geführt, deren Autorität untergraben und letztlich die Inflation herbeigeführt.[67]
Wie man sieht, richtete sich die neoliberale Bewegung vor allem gegen die in der etatistischen Phase eingeführten sozialen Marktkontrollen. Von jeher hatten die Wirtschaftseliten im sozialdemokratischen Etatismus, in den Verstaatlichungen, der Vollbeschäftigungspolitik und dem Wohlfahrtsstaat -eben in dem Dreierbund aus Staat, Kapital und Gewerkschaften - einen Angriff auf die Hegemonie des Privatkapitals gesehen. Sobald die politischen und ökonomischen Umstände es ermöglichten, musste also der Gegenangriff auf den Sozialdemokratischen Konsens erfolgen. Ökonomischer Hauptfaktor war wie gesagt die - per se mit dem sozialdemokratischen Etatismus unvereinbare - Internationalisierung der Wirtschaft. Auf politischem Gebiet finden wir den Niedergang der Linken in Folge der auf Kosten der Arbeiterschaft anwachsenden Mittelklasse sowie des gleichzeitigen Zusammenbruchs des „real existierenden Sozialismus“.
Fernziel der Neoliberalen war es, mittels einer drastischen Verminderung der sozialen Marktkontrollen den Herren über die Wirtschaft zu mehr Macht zu verhelfen. Ihre Vorschläge, die zunächst von Thatcher und Reagan und anschließend weltweit in die Tat umgesetzt wurden, lauteten im einzelnen:
• Liberalisierung der Märkte. Hauptangriffspunkt der Liberalisierung ist der Arbeitsmarkt. Wesentliche Schutzvorschriften werden beseitigt oder mit dem Ziel der „Flexibilisierung“ aufgeweicht, d.h. den Marktbedingungen angepasst („Heuern und feuern“). Letztlich soll „Arbeitskraft in eine Ware verwandelt werden, und zwar in Bezug nicht nur auf die Löhne und Tarife, sondern auch auf die Einsatzplanung“.[68] Nachdem der Staat diese Marktkontrollen aufgehoben, gewerkschaftsfeindliche Gesetze verabschiedet und sich überhaupt von seiner Pflicht zur Vollbeschäftigungspolitik verabschiedet hatte, hatte er der von dem technologischen Wandel ausgelösten strukturellen Arbeitslosigkeit nichts mehr entgegen zu setzen, sondern musste dieses Problem den Marktkräften überlassen. Darüber hinaus hat die neoliberale Politik auch direkt zu erhöhter Arbeitslosigkeit beigetragen, indem sie nämlich den staatlichen Sektor beschnitt. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes hat also zu hoher Arbeitslosigkeit und damit auch zu Armut und Ungleichheit geführt. So stieg die Arbeitslosenrate in den Ländern der G7 (USA, Kanada, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland) zwischen 1973 und 1980 von 3,4% auf 5,3%, also um mehr als die Hälfte,[69] und dann bis 1994 nochmals um die Hälfte auf 8,0%.[70] Und dem neoliberalen Mythos von der Entstehung neuer Arbeitsplätze durch Deregulierung ist entgegenzuhalten, dass es sich dabei nicht um gut bezahlte Vollzeitarbeitsplätze handelt, sondern überwiegend um Niedriglohn-Hilfsjobs. Wenn man beispielsweise in den USA voller Stolz darauf hinweist, dass infolge der dortigen vorbildlichen Arbeitsmarktliberalisierung die ausgewiesene Arbeitslosenquote nur halb so groß ist wie in Europa (1995 5,6% im Vergleich zu 10,7%[71]), so verschweigt man dabei, dass inzwischen der Anteil der Hilfsarbeiter ca. 30% beträgt[72] und dass die Arbeitseinkommen in den „neuen“ Jobs erheblich unter denen der alten liegen.
Die Kapitalmärkte wurden ebenfalls - vor allem grenzüberschreitend - liberalisiert, Devisenkontrollen sind entfallen etc. Da hierdurch die Kapitalflucht erleichtert und zahllose Steuerschlupflöcher geschaffen wurden, verlor der Wohlfahrtsstaat seine finanzielle Basis und überhaupt die Möglichkeit zur gesamtwirtschaftlichen Binnennachfrageplanung und -steuerung. Während also riesige Kapitalien auf der Suche nach spekulativen Gewinnen um die Welt geistern, haben die Regierungen nahezu alle Instrumente für eine eigenständige, nicht auf die Konkurrenz schielende makroökonomische Wirtschaftspolitik eingebüßt. Und schließlich wurden auch die Warenmärkte liberalisiert, im wesentlichen über die GATT-Abkommen.
Am Ende des geschilderten Prozesses stand bereits in den 90er Jahren im Bereich der OECD-Staaten eine so freie Marktsituation, wie es sie seit den 20ern nicht mehr gegeben hatte.[73]
• Privatisierung staatlicher Unternehmen. Privatisierungen sind ebenfalls wichtig, weil sie nicht nur den Staatssektor verkleinern, sondern dem Privatkapital ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Dabei wird die Ausgabe der neuen Aktien gern als eine Art „Volkskapitalismus“ angepriesen, doch zeigt etwa das britische Beispiel, dass die Konzentration des Kapitals durch derartige Privatisierungen eher gefördert wird: Zwar gab es nach umfangreichen Privatisierungen durch die Thatcher-Regierung in den 80er Jahren dreimal so viele Aktionäre wie zuvor, zugleich ist aber der Anteil von Aktien in Privatbesitz von 54% 1968 über 28% 1981 bis auf 20% 1988 zurückgegangen.[74]
• Umbau des Wohlfahrtsstaats zu einem bloßen Sicherheitsnetz und Übernahme sozialer Dienstleistungen durch Privatunternehmen. Dabei geht es um Ausbildung, Gesundheitswesen, Altersversorgung etc. Hierdurch verfallen nicht nur weitere, bislang vom Staat kontrollierte Wirtschaftszweige der Vermarktwirtschaftlichung, sondern es sinkt auch der „soziale Lohnanteil“, während gleichzeitig die Arbeitsverhältnisse - ganz marktgerecht - immer „flexibler“ werden.
• Steuerumverteilung zu Gunsten der Bezieher höherer Einkommen. Als die Thatcher-Regierung in den Jahren 1979-80 und 1990-91 die Steuern senkte, floss der Löwenanteil daraus den oberen Einkommensklassen zu: Fast 30% des gesamten Steuersenkungsvolumens ging an die obersten 1,6% der Einkommensbezieher, während die 11% mit dem niedrigsten Einkommen sich in gerade mal 2% der Steuersparsumme teilen mussten.[75] Vorgeblich wird mit derartigen Steuersenkungen versucht, der Geldelite „Anreize“ zum Sparen und Investieren zu geben, doch in Wirklichkeit geht es auch darum, die Gewinne nach Steuern zu steigern und die Kosten des Sicherheitsnetzes auf mehr Schultern zu verteilen. Zwangsläufig ist durch diese neoliberale Steuerpolitik die Einkommensverteilung nach Steuern noch ungerechter geworden.
Was nun die Gewinnmargen der Unternehmen angeht, die gegen Ende der etatistischen Periode stark geschrumpft waren, so hat die neue Wirtschaftspolitik sie wieder fast auf eine Höhe ansteigen lassen, wie sie während des Nachkriegsbooms gegolten hatte: Nach dem Tiefpunkt von durchschnittlich 17,4% im Jahre 1979 waren 1989 wieder 23,7% erreicht, also fast die 26% der Jahre 1952-66.[76]
Der neoliberale Konsens
Parallel zur neoliberalen Internationalisierung der Wirtschaft ereignete sich ein durchgreifender technologischer Wandel. Die Informationsrevolution führte die Marktwirtschaft in ihre post-industrielle Phase. Die vereinte Auswirkung dieser beiden Prozesse war ein drastischer Umbruch in der Beschäftigungsstruktur, der einen starken Rückgang in der Zahl der Handarbeiter mit sich brachte. So ging etwa in den G7-Staaten (ausgen. Kanada) der Anteil der in der produzierenden Industrie Beschäftigten zwischen 1971 und 1993 um mehr als ein Drittel zurück (von 31% 1971-73 auf 20% 1992-93).[77] Diese Entwicklung hinterließ bei den Gewerkschaften und den sozialdemokratischen Parteien deutlich sichtbare Spuren. In den USA schmolz die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder binnen zweier Dekaden von 35 auf 15 Mio. zusammen,[78] und in Großbritannien genügten 14 Jahre Thatcher, um ihre Zahl von 13,3 Mio. 1979 auf unter 9 Mio. 1993 zu drücken, wodurch der Anteil der gewerkschaftlich Organisierten mit 31% seinen tiefsten Stand seit 1946 erreichte.[79] Gleichzeitig erhöhte sich hier der Anteil der Kopfarbeiter von 12,8% 1951 auf 31,9% 1978.[80] Dies veränderte auch die Wählerstruktur: Binnen 20 Jahren (1964-83) fiel in der wahlberechtigten Bevölkerung der Anteil der Handarbeiter von der Hälfte auf ein Drittel.[81]
Es hat sich also in der post-industriellen internationalisierten Marktwirtschaft eine neue Klassenstruktur herausgebildet, die sich in groben Zügen wie folgt beschreiben lässt. An den äußersten Enden finden wir zwei Gruppen, die wir als Unter- und Überklasse bezeichnen wollen. Die Unterklasse besteht aus den Menschen, die unter die Armutsgrenze fallen: Arbeitslose, Nichtbeschäftigte (nicht nur die Hausfrauen von früher, sondern arbeitsfähige Männer sowie Alleinerziehende) und Unterbeschäftigte (Teilzeit Arbeitende, Gelegenheitsarbeiter etc.). Überproportional stark vertreten sind in dieser Unterklasse Frauen, Jugendliche, Migranten und Angehörige ethnischer Minderheiten. In Großbritannien schätzt man den Anteil der „absolut Benachteiligten“ (die in etwa der Unterklasse entsprechen) an der Gesamtzahl der erwachsenen Beschäftigten auf 30%,[82] die aber nur über 14% des Gesamteinkommens verfügen.[83] Am entgegengesetzten Ende der Skala steht die neue Überklasse: die obere Mittelschicht, die ihre Existenz der Ausbreitung der Marktwirtschaft verdankt und die sich hinter Stacheldraht in Gettos verschanzt,[84] welche das Gegenstück zu den Armutsgettos der Unterklasse darstellen. Die obere Mittelschicht umfasst zusammen mit der eigentlichen Oberschicht nur einen winzigen Teil der Gesamtbevölkerung, verfügt aber über einen unverhältnismäßig großen Anteil am Gesamteinkommen. So kassierten 1988 in den USA die obersten 1% der Familien 13,5% des Einkommens vor Steuern.[85]
Zwischen diesen beiden Polen ordnen sich die mittleren Gruppen ein; sie stellen die große Mehrheit der Bevölkerung (in Großbritannien ca. 70%). Auch hier gibt es wieder einen besser gestellten Teil (ca. 40% der Gesamtbevölkerung). Hutton nennt ihn die privilegierte Minderheit[86] und Galbraith mit Blick auf das Wahlverhalten die zufriedene Wählermehrheit.[87] Nur dieses Bevölkerungssegment arbeitet in sicheren und gut bezahlten Vollzeitjobs, ihm fließt auch der Löwenanteil der Einkommen zu. So verfügen in den entwickelten kapitalistischen Ländern die oberen 40% der Bevölkerung über zwei Drittel des Gesamteinkommens,[88] und sie entscheiden auch - kraft ihrer politischen und wirtschaftlichen Macht - über den Ausgang von Wahlen. Was nun den schlechter gestellten Teil der mittleren Gruppen betrifft (ca. 30% der Gesamtbevölkerung), so besteht dieser aus den Menschen in schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsverhältnissen (Hutton nennt sie die Marginalisierten und die Ungesicherten). Hierzu zählen die meisten Teilzeit- und Gelegenheitsbeschäftigten, die bei niedrigem Lohn auf ungeschützte Arbeitsplätze angewiesen sind, außerdem natürlich die ungelernten Blaumann-Arbeiter.
Wie man sieht, stimmt nicht einmal das verbreitete Bild von der nach-industriellen neoliberalen Gesellschaft als einer Zweidrittel-Gesellschaft, es handelt sich dabei vielmehr um eine „40-Prozent-Gesellschaft“. Die zu dieser privilegierten Minderheit zählen, stehen meist einem Ausbau des wohlfahrtsstaatlichen Etatismus ablehnend gegenüber. Statt dessen sind sie von der Ideologie der privatisierten Dienstleistungen (Kranken- und Rentenversicherung, Schule und Hochschule etc.) fasziniert - wobei die neoliberale Aushöhlung der staatlichen Dienste nicht wenig zu dieser Faszination beiträgt. Auch sind sie - im Gegensatz zur Unterklasse - die Benachteiligten im bisherigen System, da sie es mit ihren Steuern finanzieren, es jedoch kaum nutzen, schon wegen der immer schlechteren Qualität. Bei Wahlen allerdings stellt diese privilegierte Minderheit die entscheidende Mehrheit, denn während sie wenigstens ihre Stimme abgibt, unterzieht sich die Unterklasse dieser Mühe gar nicht erst - erwartet sie doch von den Parteien sowieso keine Lösung ihrer Probleme. Wahlentscheidend ist in den reichen Ländern also die privilegierte Minderheit.
Die beschriebenen Verschiebungen in der Klassenstruktur und im Wählerverhalten zogen unausweichlich den rapiden Niedergang der sozialdemokratischen Parteien nach sich, worauf diese wiederum versuchten, durch „Modernisierung“ nach neoliberalem Schnittmuster doch noch in nennenswertem Maße die Stimmen der privilegierten Minderheit zu gewinnen. Alle sozialdemokratischen Parteien, ob an der Regierung wie in Frankreich oder Schweden, ob in der Opposition wie in Großbritannien oder Deutschland, warfen die traditionellen sozialdemokratischen Werte wie Vollbeschäftigung, Wohlfahrtsstaat etc. über Bord, um an ihre Stelle Varianten des neoliberalen Programms zu setzen (Privatisierung, Marktliberalisierung etc.) - und dies alles im Namen einer Befreiung der „Zivilgesellschaft“ vom Etatismus! Immerhin bemühen sie sich noch darum, die „soziale Dimension“ einzubeziehen - man denke nur an ihre Mitleid erregenden Anläufe auf dem Gebiet der Europäischen Verträge.
Im Endeffekt hat diese Entwicklung in der kapitalistischen Welt zu einer „Amerikanisierung“ des politischen Lebens geführt. Hatten Wahlen zuvor den traditionellen Gegensatz zwischen sozialdemokratischen, auf den Ausbau der Rolle des Staates festgelegten Parteien auf der einen Seite und konservativen Parteien, die für Marktwirtschaft eintraten und den Staat zurückdrängen wollten, auf der anderen widergespiegelt, so sind sie nun zu Schönheitswettbewerben zwischen den Führern bürokratischer Parteiapparate mutiert, deren Programme sich fast aufs Wort gleichen und denen es vor allem um die Staatsraison, also den Machterhalt, geht. Ein neoliberaler Konsens hat sich wie eine Woge über diese Welt ausgebreitet und den sozialdemokratischen Konsens der Nachkriegsjahre unter sich begraben.
Der neue Konsens wirkt sich nicht nur politisch, sondern vor allem sozial, ideologisch, kulturell und natürlich ökonomisch aus. So will er nicht etwa den Staat völlig aus der Wirtschaft heraus halten - (Neo-)Liberalismus ist nicht das selbe wie laissez-faire. Schließlich hat ja der Staat selbst das System der selbstregulierenden Märkte geschaffen, und er musste deren reibungsloses Funktionieren durch gelegentliche Interventionen sicherstellen. Auf der Angebotsseite spielt er eine wichtige Rolle: Er soll die Wettbewerbsfähigkeit fördern, die Menschen für die neuen technologischen Anforderungen schulen, ja sogar die Exporte (direkt oder indirekt) subventionieren. Solche staatlichen Interventionen, die mit der Marktwirtschaft kompatibel sind, werden also vom neoliberalen Konsens keineswegs bekämpft, sondern heftig voran getrieben. Beispiele für diesen „progressiven“ Flügel des Konsenses sind die Clinton-Regierung und die sozialdemokratischen Parteien in Europa. Wenn also behauptet wird, der neoliberale Konsens habe dem sozialdemokratischen Konsens - der Mischwirtschaft - gänzlich den Garaus gemacht, so trifft das nicht zu. In Wirklichkeit ist es viel schlimmer: Der Begriff „Mischwirtschaft“ wurde so uminterpretiert, dass er den Interessen der Wirtschaftselite besser entspricht und uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ungleichheit und Ungerechtigkeit in einem Ausmaß beschert, wie es sie nur zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegeben hatte!
Blicken wir auf die Gesellschaft selbst: Wo der sozialdemokratische Konsens die „eine Nation“ proklamiert hatte, bringt der neoliberale Konsens stillschweigend die „40-Prozent-Gesellschaft“ mit sich. Unter ihm müssen die Menschen sich vor Arbeitslosigkeit fürchten und können nicht einmal sicher sein, auch nur ihre Grundbedürfnisse (Wohnung, Bildung, Gesundheit) zu befriedigen. Diese Unsicherheit wiederum hat den Feministinnen ihre Radikalität genommen, die Studenten dem politischen Leben entfremdet und die organisierte Arbeiterschaft friedfertig werden lassen. Auch die Hoffnungen, die man einmal in die Grünen setzen konnte, sind geschwunden. Denn statt die Grundlagen der Marktwirtschaft in Frage zu stellen, schließen sie sich entweder (wie in Europa) der sozialdemokratischen Lehre vom Ausbau der Zivilgesellschaft an und geben dem Umweltschutz Vorrang, oder sie verschreiben sich (wie in den USA) dem Irrationalismus und Mystizismus. Im Ergebnis erhalten hierarchische Strukturen und Institutionen - nach den Rückschlägen der sozialdemokratischen Ära- ein neues Gewicht, obgleich nicht ganz das frühere. Andererseits hat der neue Konsens eine geringere Breitenwirkung als der alte sozialdemokratische: War dieser - als vertragliche Regelung zwischen Kapital und Gewerkschaften - fast ein gesamtgesellschaftlicher Konsens gewesen, so wird der neoliberale Konsens explizit nur von der Oberschicht und der Mehrheit der 40-Prozent-Gesellschaft (die davon profitieren) getragen, nicht aber von der Gesellschaft als Ganzer.
Auf kultureller Ebene hat die Vermarktwirtschaftlichung der Kultur und die weitgehende Freiheit der Märkte ganz wesentlich zur derzeitigen Homogenisierung beigetragen, die weltweit dazu geführt hat, dass die überlieferten Gemeinschaftskulturen verschwinden und die Menschen nur noch eine im Westen, vor allem in den USA, produzierten Massenkultur konsumieren. So haben in der Filmbranche sogar die wirtschaftlich und kulturell stärksten Länder Europas den Wettlauf mit der übermächtigen US-Filmindustrie verloren gegeben. Zwei Beispiele: Anfang der 90er Jahre betrug in Europa der Marktanteil der US-Filme 73%, und in Großbritannien kam 1991 eine Handvoll amerikanischer Verleihfirmen für 66% der Kinofilme und 70% der Videoausleihen auf.[89]
So dürfen wir denn auch in dem neuerdings in vielen Teilen der Welt aufkeimenden „Kulturnationalismus“ den verzweifelten Versuch sehen, angesichts der alles vereinheitlichenden Marktkräfte so etwas wie eine kulturelle Identität zu bewahren. Doch was kann ein solcher Kulturnationalismus in einer elektronischen Welt bewirken, in der ein paar Multis 75% der Kommunikationsströme kontrollieren?[90] Schließlich muss der Kulturimperialismus heute nicht mehr die Hilfe von Kanonenbooten in Anspruch nehmen, um fremde Kulturen zu verschlingen. Heute hat die Vermarktwirtschaftlichung der Kommunikationsbeziehungen dafür gesorgt, dass an die Stelle einer tieferen Wesensfremdheit der einzelnen Kulturen eine oberflächlich verstehbare, sozusagen folkloristische Exotik tritt.
Um schließlich noch zur Ideologie zu kommen, so hat der neoliberale Konsens hier vollends die Vorherrschaft übernommen. Nach dem kurzen Zwischenspiel des keynesianischen Etatismus ist in den Wirtschafts- und überhaupt den Sozialwissenschaften die liberalkonservative Tradition wieder zur Orthodoxie geworden. Während die Gesellschaftswissenschaftler en masse zum liberalen „Marktparadigma“ übergelaufen sind, suchen die früheren Marxisten nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus ihr Heil in verschiedenen Varianten des „Sozialliberalismus“, die sämtlich mit dem neoliberalen Konsens ebenso bruchlos kompatibel sind wie jener Postmodernismus, der alle Traditionen einer Gesellschaft als gleichwertig ansieht, der Vermarktwirtschaftlichung der Gesellschaft nachgibt und so auf einen allgemeinen Konformismus hinausläuft (siehe Kapitel 8).
Die internationalisierte Marktwirtschaft
Wenn das Tempo der Internationalisierung der Marktwirtschaft seit den 70er Jahren merklich angezogen hat, so ist dies vor allem eine Folge der kombinierten Einwirkung „objektiver“, also wirtschaftlich-technologischer Faktoren und der bewusst betriebenen neoliberalen Politik des freien Marktes. So hat beispielsweise in diesem Zeitraum auf den Warenmärkten die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Wachstum der Exporte erheblich zugenommen. Denn während in den entwickelten kapitalistischen Ländern 1960-1970 diese Wachstumsrate das 1,6fache der Zunahme des BIP betrug, war es 1970-93 schon das 1,8fache.[91] Folglich erhöhte sich in nur 20 Jahren der Anteil der Exporte am BIP um die Hälfte (von 14% auf 21%); in der größten Marktwirtschaft - den USA - hat sich dieser Anteil fast verdoppelt (von 6% auf 11%) und übertrifft inzwischen den Wert für Japan.[92] Schutzvorkehrungen für inländische Warenmärkte wurden in den beiden großen Wirtschaftsblöcken (EU und Nordamerika) völlig aufgehoben und werden unter dem neuen GATT-Abkommen bald weltweit so gut wie verschwunden sein. Damit stiegen zwangsläufig die Importe an: In den G7-Ländern waren es 1965-80 3,9%, 1980-90 aber schon 5,5%,[93] und in Europa erhöhte sich zwischen den frühen 70er und dem Ende der 80er Jahre der Importanteil um 60%.[94]
Entscheidenden Einfluss auf die Internationalisierung der Marktwirtschaft hatte auch der Kapitalmarkt, also die neoliberale Aufhebung aller Devisen- und Kapitalkontrollen. Einige Experten wollen sogar in dem neuerdings zu beobachtenden Anstieg ausländischer Direktinvestitionen einen neuen Trend erblicken, dem zu Folge der Handel als Triebkraft der internationalen Integration von den Investitionen abgelöst wird.[95] So hat sich in den entwickelten kapitalistischen Ländern der Anteil der ausländischen Direktinvestitionen am BIP binnen 20 Jahren fast verdoppelt und liegt bereits über 10%.[96]
Vielleicht noch bedrohlicher für die wirtschaftliche Souveränität der Nationalstaaten sind die kurzfristigen Kapitalbewegungen. Nach jüngsten Schätzungen werden täglich eine Billion Dollar über die internationalen Kapitalmärkte bewegt; davon sind 95% rein spekulativ, nur 5% dienen dem internationalen Handel.[97] Noch Anfang der 70erJahre dienten 90% des Kapitalverkehrs der Finanzierung von Handel und Investitionen und nur 10% waren spekulativ. Dass schon allein darin eine ernst zu nehmende Gefahr für die Wachstumswirtschaft liegen könnte, deutete selbst Paul Volcker, seinerzeit Präsident der US-Notenbank, an, als er die riesige Spekulationswelle zur Hälfte dafür verantwortlich machte, dass die Wachstumsraten seit den 70er Jahren um 50% zurückgegangen sind.[98]
Selbst wenn man das Gegenargument gelten lässt, über die kurzfristigen Kapitalströme würden „hauptsächlich Gewinne und Verluste gleichmäßig über das System verteilt, ohne Rückwirkung auf die volkswirtschaftlichen Wachstumspotenziale“,[99] so ist doch nicht zu bestreiten, dass das Überborden dieser Kapitalströme den Nationalstaaten und selbst den Wirtschaftsblöcken jede Möglichkeit einer wirksamen sozialen Marktkontrolle genommen hat. Wenn man daran denkt, wie sehr der internationale Anleihenmarkt seit der Liberalisierung der 70er Jahre angeschwollen[100] und dem zu Folge der ausländische Anteil an den staatlichen Schuldverschreibungen gewachsen ist,[101] so wird klar, dass keine nationale Regierung es mehr wagen darf, mit ihrer Wirtschaftspolitik das Missfallen der Kapitalmärkte zu erregen. Täte sie es, so können diese auf die Kreditwürdigkeit des Landes, seine Währung und die dort getätigten Investitionen einen unerträglichen Druck ausüben. Unterstellen wir nur einmal, eine sozialdemokratische Regierung würde zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gegen den Trend eine expansive Wirtschaftspolitik starten. Dann lässt sich leicht zeigen, dass dies bei freier Kapitalmobilität „zu erheblichen Wertverlusten führen würde“.[102] Infolge der Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen „sehen sich also alle westlichen Länder dem Risiko der Kapitalflucht und des dadurch ausgelösten Zinsanstiegs ausgesetzt“.[103]
Der Souveränitätsverfall der Nationalstaaten manifestiert sich auch in der Entstehung riesiger Wirtschaftsblöcke, denn gerade in diesen übernehmen ja supranationale Institutionen mehr und mehr die ehemalige Rolle der Einzelstaaten auf wirtschaftlichem Gebiet. Hervor stechendes Beispiel ist die EU, wo dieser Prozess in vollem Gange ist, aber auch die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA). In beiden Blöcken finden wir jeweils einen Kern (Deutschland bzw. die USA), einige von diesem Kern abhängige Metropolen (Frankreich, Großbritannien, Italien etc. bzw. Kanada) und schließlich die peripheren Gebiete (die Mittelmeerländer bzw. Mexiko). Auch in der übrigen Welt zeichnet sich die Transformation regionaler Gruppierungen zu Wirtschaftsblöcken ab, so etwa die ASEAN in Südostasien, der MERCOSUR in Lateinamerika oder die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft APEC (letztere will bis 2020 eine den Pazifik umspannende Freihandelszone schaffen).
Mit diesen Blöcken werden die gleichen wirtschaftlichen Ziele verfolgt, die bereits dem neoliberalen Konsens zu Grunde lagen. Das regionale Kapital soll durch einen vergrößerten Warenmarkt konkurrenzfähiger gemacht werden, weil von der Verschmelzung von Forschungs- und Entwicklungskapazitäten ein Produktivitätsschub erwartet wird. Noch bedeutsamer wird der Vorteil der Blockbildung durch die Integration der Kapital- und der Arbeitsmärkte - siehe wieder die EU - weil sich durch die erhöhte Mobilität von Kapital und Arbeitskräften die Produktionskosten zusätzlich drücken lassen. Dies liegt daran, dass Unterschiede im Lohnniveau weder durch Freihandel noch durch Kapital- oder Arbeitsmobilität ausgeglichen werden, mag auch die orthodoxe Wirtschaftswissenschaft das Gegenteil behaupten. So liegt der durchschnittliche kaufkraftbezogene Stundenlohn trotz Freihandel und Mobilität in den peripheren EU-Ländern Griechenland und Portugal weiterhin nur halb so hoch wie im Zentrum,[104] ohne dass ein Aufholen absehbar wäre.[105] Mobiles Kapital lässt sich nämlich in Niedrigkosten-Gebieten investieren, während mobile Arbeitskräfte einen Lohndruck auf die Hochlohnländer ausüben. Wenn es nicht einmal der fest gefügte Nationalstaat geschafft hat, starke regionale Unterschiede mittels Integration auszugleichen (das Einkommensgefälle zwischen den jeweils reichsten und ärmsten Regionen entspricht in Frankreich, Belgien, Deutschland, Spanien und den Niederlanden einem Faktor 2, in Italien sogar 2,5[106]), wie wird sich dann die Integration erst in einem viel loser geknüpften supranationalen Block auswirken?
Überhaupt wäre es in Europa nach der vollständigen Liberalisierung der Waren-, Kapital- und Arbeitsmärkte durchaus denkbar, dass in diesem ausgedehnten Wirtschaftsraum ein selbstregulierendes System nach Art des Goldstandards funktionieren könnte. Nichts anderes aber wird mit der Europäischen Währungsunion verfolgt. Der europäische Goldstandard unserer Tage wird der Euro sein. Es wird auch besser funktionieren als seinerzeit, weil eine der Hauptursachen für den Fehlschlag des alten Systems - die durch die zahlreichen Restriktionen bedingte „Unflexibilität“ der Märkte - beseitigt ist. Diese Restriktionen hatten ja den Selbstverteidigungsmechanismus der Gesellschaft gegen ihre Vermarktwirtschaftlichung repräsentiert und beinahe zum Zusammenbruch der Marktwirtschaft selbst geführt. Nachdem unter dem neoliberalen Konsens die Restriktionen weitgehend gefallen sind, bietet sich jetzt die historische Gelegenheit zur Vollendung des Prozesses der Vermarktwirtschaftlichung. Somit hat die internationalisierte (neoliberale) Phase mehr Erfolgsaussichten als die frühere liberale Phase. Dafür ist allerdings ein Preis zu zahlen: Nachdem die beschleunigte Vermarktwirtschaftlichung schon im Großbritannien Margaret Thatchers und ähnlichen Ländern die Ungleichheit hat dramatisch ansteigen lassen, sagen diverse Untersuchungen die gleiche Entwicklung für solche Blöcke voraus, in denen entwickelte kapitalistische Länder zusammen mit halb-peripheren im Rahmen einer gemeinsamen Währung und unter einer einzigen Zentralbank agieren.[107]
Im Rückblick wird klar, dass Polanyi mit seiner Annahme Unrecht hatte, der Aufstieg des Etatismus in den 30er Jahren wäre ein Beleg sowohl für den utopischen Charakter des selbstregulierenden Marktes als auch für eine „gesellschaftliche Grundströmung“[108] in Richtung auf eine Steuerung der Märkte. Denn der Etatismus bildete nur ein kurzes Zwischenspiel im Zuge der Vermarktwirtschaftlichung, eine Übergangserscheinung nach dem Fehlschlag des ersten Versuchs, eine internationalisierte selbstregulierende Marktwirtschaft einzuführen. Und dass dieser Versuch fehlschlug, lag nicht etwa - wie Polanyi glaubte - am utopischen Charakter der gesellschaftlichen Vermarktwirtschaftlichung, sondern am Fehlen der objektiven Voraussetzungen für die Vollendung des Prozesses, die eben während der ersten Phase der Ausbreitung der Marktwirtschaft im 19. Jahrhundert noch nicht gegeben waren.
Nun aber ist man im Begriff, die vier Institutionen, auf denen - nach Polanyi - der erste Anlauf zu einer Gesellschaft des selbstregulierenden Marktes beruhte, wieder ins Leben zu rufen:
Der selbstregulierende Markt war Anfang des 20. Jahrhunderts (aus den bereits erörterten Gründen) verschwunden, und mit ihm war der erste Versuch einer internationalisierten Marktwirtschaft gescheitert. Heute jedoch ist er stärker verwirklicht als je zuvor. Der Etatismus ist überall auf dem Rückzug, Kapital-, Arbeits- und Warenmärkte sind weitgehend frei bzw. flexibilisiert. Alle gesellschaftlichen Marktkontrollen, die dem Interesse der Herren über die Wirtschaft zuwider laufen, sind im Zuge der Vermarktwirtschaftlichung eliminiert.
Das Gleichgewicht der Kräfte, das während der etatistischen Phase zusammenbrach, entsteht aufs Neue: Die UNO wird von den großen kapitalistischen Ländern kontrolliert, und nach der Lateinamerikanisierung Russlands stehen die USA als einzige Supermacht da.
Der liberale Staat, zunächst aus dem selbstregulierenden Markt entstanden, dann gemeinsam mit diesem unter der etatistischen Phase vielerorts zusammengebrochen, ist nunmehr geradezu allgegenwärtig.
Der Internationale Goldstandard, der nicht ohne den selbstregulierenden Markt bestehen konnte, verspürt wieder Aufwind. Eine Variante ist auf dem besten Wege, Anfang des 21. Jahrhunderts zur Realität zu werden. Denn wenn demnächst ein derartiger Mechanismus unter dem Euro betrieben wird, dürfte daraus auch ein Druck in Richtung auf feste Paritäten zwischen den drei Hauptwährungen Dollar, Euro und Yen erwachsen. Am Ende stünde eine Art internationaler Goldstandard, also ein globales Währungssystem - ein Wirtschaftsraum mit einer vereinheitlichten Währung, der sich über die reichsten Länder der Erde erstreckt.
Der Neoliberalismus ist also keineswegs das Konjunkturphänomen, als das ihn die Sozialdemokraten darstellen, sondern er verkörpert - nach dem Zwischenspiel des Etatismus - die Vollendung des Prozesses der Vermarktwirtschaftlichung. Jetzt sind ja auch die politischen Voraussetzungen dafür gegeben, nachdem im Osten der „real existierende Sozialismus“ zusammengebrochen ist und im Westen die Sozialdemokratie ihre Wählerbasis verloren hat. Jeder kann den neuen Konsens für eine neoliberale Vermarktwirtschaftlichung erkennen: Konservative wie sozialdemokratische Parteien, Opposition wie Regierung verfolgen diese Politik; die die Weltwirtschaft bestimmenden Institutionen wie IWF und Weltbank vertreten diese Sichtweise ebenso wie die Europäischen Verträge (Maastricht etc.). Der Sozialdemokratische Konsens ist tot; der neue Konsens ist das Abbild der aus der internationalisierten Marktwirtschaft erzwungenen strukturellen Veränderungen.
Die Internationalisierung und der Nationalstaat
Internationalisierung oder Globalisierung?
Seit kurzem wird die Frage erörtert, ob die Marktwirtschaft derzeit ihre Internationalisierung oder aber ihre Globalisierung durchläuft. Warum ist das so wichtig? Weil das sozialliberale Argument, der Staat könne bei der Kontrolle über die Wirtschaft noch eine nennenswerte Rolle spielen, mit der Globalisierungsthese unvereinbar ist.
Man muss eine scharfe Trennungslinie ziehen zwischen der Internationalisierung, von der in diesem Buch die Rede ist, und der Globalisierung. Ich beziehe mich auf die Entwicklung zu internationalisierten Märkten mit der Folge, dass sowohl die nationalen Wirtschaftspolitiken als auch die Reproduktion der Wachstumswirtschaft selbst von den grenzüberschreitenden Kapital- und Warenströmen bedingt werden. Die Globalisierung hingegen bezieht sich auf eine internationalisierte Produktion, vollzogen in staatenlosen Gebilden und in einer grenzenlosen Welt, weitgehend ohne Bezug zum jeweiligen Standort und unter einer selbst unternehmensintern Länder übergreifenden Arbeitsteilung. Für mich steht die Tatsache, dass eine so verstandene Globalisierung an Grenzen stößt, nicht in Widerspruch zu dem Argument, die nach dem Ende des Etatismus sich immer mehr beschleunigende Internationalisierung sei eben kein Konjunkturphänomen, sondern Folge eines strukturellen Wandels.
Nach wie vor ist es oberstes Ziel der die Marktwirtschaft kontrollierenden Eliten, die Rolle des Marktes zu stärken und die gesellschaftlichen Kontrollen darüber zu schwächen, denn davon versprechen sie sich die Maximierung von „Effizienz“ und Wachstum. Also verschwinden nicht nur die sozial begründeten Beschränkungen, sondern teilweise auch die allgemeineren gesellschaftlichen Kontrollen wie Zölle, Importkontingente etc. Sie hemmen die Expansion der internationalisierten Marktwirtschaft und sind folglich unakzeptabel. Nur bedeutet das nicht, dass es nun überhaupt keine Marktkontrollen mehr gäbe. Es wird weiter „reguliert“, manchmal sogar stärker als zuvor, und sogar einige der gesellschaftlichen Kontrollen bleiben bestehen. Ein Beispiel bietet der „neue Protektionismus“, also die an die Stelle der Zölle tretenden Marktordnungen und „freiwilligen“ Exportbeschränkungen, die in vielen Branchen der hoch entwickelten Länder (vor allem in der Stahl-, Textil- und Automobil-Industrie) eingeführt wurden[109] und deren Auswirkungen auf die Exporte - nach UNO-Angaben - den Ländern des Südens alljährlich einen Schaden von einer halben Billion Dollar zufügen.[110] Sogar einige der sozial motivierten Regelungen sind noch zu finden. Zwar lässt man den Wohlfahrtsstaat verkommen, doch bleiben einige Sicherheitsnetze aufgespannt - schließlich möchte man keinen Massenaufstand riskieren. Nur sind diese, für bestimmte Grenzfälle wie etwa die Allerärmsten reservierten Fangnetze gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die grundlegende Universalität des Wohlfahrtsstaates, also mit einer Institutionalisierung der Armut.
So schließt die derzeitige neoliberale Form der internationalisierten Marktwirtschaft den Kreis, der im 19. Jahrhundert mit dem Ansatz zu einer liberalen Version eingeleitet wurde. Dieser Anlauf zu einem selbstregulierenden Markt scheiterte. Heute wird eine neue Synthese versucht, die die damaligen Extreme vermeidet und einen grundsätzlich selbstregulierenden Markt mit diversen Beschränkungen und Sicherungen kombiniert. Diese Sicherungen sollen aber, ohne den Regulierungsprozess zu stören, vor allem die Privilegien der „Überklasse“ und der „40-Prozent-Gesellschaft“ garantieren und der „Unterklasse“ allenfalls das Überleben sichern. Insofern spielt natürlich der Nationalstaat immer noch eine wichtige Rolle: Indem er durch sein Gewaltmonopol die wirtschaftliche Infrastruktur schützt, sorgt er dafür, dass das neoliberale Räderwerk reibungslos läuft.
Nun halten aber die Sozialliberalen für den Nationalstaat eine weitaus wichtigere Rolle bereit. Als jüngstes Beispiel möchte ich eine Untersuchung von Paul Hirst und Grahame Thompson zitieren,[111] die sehr überzeugend für die auch unter der neoliberalen internationalisierten Marktwirtschaft fort dauernde Bedeutung des Nationalstaats plädieren. Sie wollen damit zwar in erster Linie die von rechten Nationalisten vorgebrachte Globalisierungsthese angreifen, doch liefern sie damit auch Argumente für die linken Vertreter der „Zivilgesellschaft“. Ihre Gedanken lassen sich wie folgt zusammenfassen:
(1) Wir hätten eine so hoch internationalisierte Wirtschaft bereits 1870-1914 gehabt, und sie sei in mancher Hinsicht damals offener und integrierter gewesen als heute.
(2) Es gäbe nur wenige wirklich transnationale Konzerne; die meisten Unternehmen hätten eine nationale Basis.
(3) Da sich Handel, Auslandsinvestitionen und Kapitalströme in der „Triade“ (Nordamerika, Japan und EU) konzentrieren, könne man die heutige Weltwirtschaft gar nicht als global bezeichnen.
(4) Die Regierungen der wirtschaftlich starken Länder „verfügten durchaus über Möglichkeiten, auf Wirtschaftsfaktoren wie etwa die Finanzmärkte Druck auszuüben. Auch globale Märkte könnten reguliert und gesteuert werden“.[112]
Offensichtlich steht keines dieser Argumente - ausgenommen vielleicht (1) - zu meinen Thesen über die heutige neoliberale Internationalisierung der Marktwirtschaft im Widerspruch. Denn im Gegensatz zu den „Globalisierern“ setze ich keineswegs die Existenz eines umfassenden, staaten- und grenzenlosen transnationalen Weltkonzerns voraus. Ich wies ja schon darauf hin, wie nützlich es für transnationale Unternehmen ist, sich mittels einer nationalen Basis Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten zu verschaffen, und dass dies überhaupt nicht im Widerspruch zur beschleunigten Vermarktlichung der Wirtschaft steht. Der hier beschriebene Zusammenhang zwischen den Multis und der Internationalisierung wird auch von Suzan Strange vertreten: „Nicht in der Existenz der Multis liegt das Neue; neu ist das gestörte Gleichgewicht zwischen Firmen, die lokal oder für Inlandsmärkte arbeiten, und solchen, die sich am Weltmarkt ausrichten und teilweise auch außerhalb ihres Heimatstaates fertigen lassen.“[113]
In meiner Internationalisierungs-These setze ich nicht voraus, dass der Staat seine regulatorische Rolle aufgibt oder sogar politisch verschwindet. Wohl aber verliert der Staat seit einem Vierteljahrhundert die Souveränität über die Wirtschaft. Die erwähnten Autoren bestätigen dies sogar, indem sie nämlich schon das Ziel der entwickelten Länder, für Vollbeschäftigung zu sorgen, als „radikal“ abstempeln,[114] dabei war gerade dies der Kern sozialdemokratischer Politik in der Zeit des Sozialdemokratischen Konsenses. Wenn sie also ausführen, dass „der Internationalisierungsprozess den Nationalstaat keineswegs untergräbt, sondern im Gegenteil seine Rolle auf vielen Gebieten stärkt“,[115] so denken sie dabei überhaupt nicht an soziale oder auch nur gesellschaftliche Kontrollen, sondern allenfalls an regulierende Eingriffe.[116] Implizit setzen sie also darauf, dass, wenn nur Marktwirtschaft und Wachstumswirtschaft sich stabil entwickeln, den Armen schon über den Sickereffekt geholfen würde.
Man muss aber sehen, dass die Autoren selbst dort, wo sie von der Möglichkeit einer „neuartigen polyzentrischen Mischwirtschaft mit so ehrgeizigen Zielen wie der Beschäftigungsförderung“ sprechen, dies nur davon abhängig machen, dass „die Mitglieder der Triade ihre Politik möglichst weitgehend koordinieren“.[117] Nur: Warum sollten die Eliten, die in der Triade das Sagen haben, sich für eine derartige Wirtschaftsform engagieren? Dazu wird nichts gesagt; allenfalls wird die alte Unterkonsum-These vorgebracht, nach der ein hohes Maß an Ungleichheit den Konsum so stark schrumpfen lässt, dass dies die Wachstumswirtschaft gefährden würde.[118] Die Autoren übersehen dabei völlig, dass die Wachstumswirtschaft sich schon immer problemlos reproduzieren konnte, solange nur der Konsum der „40 Prozent“ zunimmt. Ebenso wenig fragen sie sich, ob es heute überhaupt noch eine Mischwirtschaft geben kann. Statt dessen erwarten sie anscheinend, die Eliten der Triade würden sich schon (mit etwas „Druck von unten“) dazu überreden lassen!
Also noch einmal: Internationalisierung wie ich sie verstehe setzt weder eine wirklich globale Wirtschaft noch die Auflösung der Triade voraus. Ich weiß, wie mächtig die Triade ist und dass diese Länder angesichts offener Märkte ihre gesellschaftlichen Wirtschaftskontrollen vereinheitlichen müssen. Nur muss unter Konkurrenzbedingungen diese Vereinheitlichung den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ widerspiegeln, und da die gesellschaftlichen Kontrollen innerhalb der Triade so unterschiedlich sind, wäre es völlig unsinnig zu erwarten, der Staat oder die „Zivilgesellschaft“ könnten solche Kontrollen noch wirksam einführen.
Da Hirst und Thompson auf einer unhistorischen Analyse der heutigen Wirtschaftsordnung aufsetzen, übersehen sie den mit dieser internationalisierten Wirtschaft verbundenen Strukturwandel und halten diese statt dessen für ein Konjunkturphänomen.[119] Daher verwerfen sie auch die „Globalisierungsthese“ einer Nichtbeherrschbarkeit der Marktwirtschaft. Aber nur die extremsten Globalisierungstheoretiker würden bestreiten, dass die Marktwirtschaft in Grenzen beherrscht - nämlich reguliert - werden kann. In Wirklichkeit kommt es doch darauf an, ob der Nationalstaat oder selbst ein Wirtschaftsblock wie EU oder NAFTA in eine internationalisierte Marktwirtschaft noch mit wirksamen gesellschaftlichen Kontrollen zum Schutz von Mensch und Natur hineinregieren kann oder nicht. Im letzteren Fall sind solche Kontrollen in der Tat nur noch im globalen Rahmen möglich. Indes ist dies eine rein theoretische Alternative, die völlig von der historischen Dynamik der Marktwirtschaft und den entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen absieht.
Die Autoren betonen auch, eine offene Marktwirtschaft sei nichts Neues. Dem schließe ich mich an, doch steht für mich auf Grund meiner historischen Perspektive die Offenheit der internationalisierten Marktwirtschaft am Ende eines geschichtlichen Prozesses, der vor 200 Jahren einsetzte. Es kommt nicht darauf an, ob die neoliberale internationalisierte Wirtschaft offener oder weniger offen ist als seinerzeit die liberale, sondern ob der unter ihr unternommene Versuch, eine selbstregulierende internationalisierte Marktwirtschaft aufzubauen, von mehr Erfolg gekrönt sein wird.
Jedenfalls steht die Behauptung der Autoren, die Märkte seien heute weniger offen als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch dann auf schwachen Füßen, wenn man ihnen konzediert, dass Offenheit im heutigen Ausmaß nichts Neues ist.
Tabelle 1.3
Offenheit1 für Handel in den entwickelten kapitalistischen Ländern
1913
1950
1973
1980
1996
Frankreich
35,4
21,2
29,0
44,0
45,0
Deutschland
35,1
20,1
35,2
46,0
Japan
31,4
16,9
18,3
28,0
17,0
Niederlande
103,6
70,2
80,1
103,0
100,0
Großbritannien
44,7
36,0
39,3
52,0
58,0
USA
11,2
7,0
10,5
21,0
24,0
1. Verhältnis (in Prozent) von Gesamtwarenhandel (Importe+Exporte) zum BIP
Quelle: Paul Hirst und Grahame Thompson, Globalisation in Question, Tabelle 2.5 (für 1913, 1050, 1973) sowie Schätzungen nach Angaben der Weltbank (World Development Report 1998/99, Tab. 20)
Sie stützen sich dabei auf Indikatoren für die grenzüberschreitenden Handels- und Kapitalmärkte. Nun gibt es verlässliche Statistiken nur für den Handel, und der ist nach dem Krieg erheblich offener geworden als zuvor, auch wenn die Autoren meinen, das Gegenteil beweisen zu können. Wie aus Tab. 1.3 ersichtlich, ist mit Ausnahme Japans in allen Ländern der Außenhandel seit dem Krieg ständig offener geworden, nur die Rezession der 90er Jahre führte zu einem leichten Rückgang. In vier großen Ländern (USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich) liegt der Wert für 1989 erheblich über dem von 1913. Da aber diese vier bereits drei Viertel des Gesamthandels der sechs aufgeführten Länder ausmachen, entbehrt die Behauptung der Autoren, die internationale Offenheit sei 1913 größer gewesen als heute,[120] jeder Grundlage (zumal sie ihre Daten seltsamer Weise nur bis 1973 ausgewertet haben). Was nun die Offenheit der Kapitalmärkte angeht, so zeigen die angeführten Daten in der Tat einen Rückgang seit 1913. Nur muss man sich fragen, ob die hier verwendeten Statistiken wirklich brauchbar sind, wenn ausgerechnet im Falle der USA, also des Landes mit der wichtigsten Reservewährung, ein völlig sinnloses Ergebnis herauskommt.[121]
Stirbt der Nationalstaat ab?
Zwar spielt also, anders als die „Globalisierer“ glauben, der Nationalstaat auch unter der neoliberalen internationalisierten Wirtschaft noch eine Rolle - jedoch nicht zum Schutz der Gesellschaft vor den Marktkräften, sondern einzig zur Sicherung der Reproduktion der Marktwirtschaft durch Einsatz seines Gewaltmonopols und zur Schaffung eines stabilen Rahmens für das effiziente Funktionieren des Marktes. Hatte in der ersten, nationalen Phase der Vermarktwirtschaftlichung der Nationalstaat diese Aufgabe übernommen, so sind in der heutigen internationalisierten Marktwirtschaft zusätzlich noch internationale Organisationen wie die NATO, die kapitalistisch kontrollierte UNO etc. eingeschaltet. Unübersehbar haben sich diese neue Weltordnung und der Zwang zur internationalisierten Marktwirtschaft während des Golfkriegs 1991 bestätigt.[122]
Das im Westfälischen Frieden entstandene System souveräner Nationalstaaten verwandelt sich in ein vielschichtiges System politisch-ökonomischer Gebilde: Kleinregionen, herkömmliche Staaten, Großregionen - jeweils mit Institutionen von unterschiedlicher Funktionsbreite und Autorität - und schließlich die Weltstädte als Steuerungszentren der globalen Wirtschaft.[123] Nicht mehr die Frage „Nationalismus oder Internationalismus?“ ist entscheidend; es kommt vielmehr darauf an, wie die Völker zusammenwirken können, um einen institutionellen Rahmen für ihre politische, ökonomische, soziale und kulturelle Autonomie zu schaffen. Die Trends, die sich unter der heutigen internationalisierten Marktwirtschaft herausbilden, lassen sich sehr gut am Beispiel Europas studieren.
In Osteuropa, wo der Prozess der Vermarktwirtschaftlichung gewaltsam durch die Einführung des „real existierenden Sozialismus“ unterbrochen wurde, spielt der Staat heute genau die Rolle, die er in Westeuropa im 19. Jahrhundert beim Aufbau freier Märkte gespielt hatte. Hier kommt es entscheidend auf diese Rolle an, was wohl auch die stark nationalistische Färbung des gegenwärtigen Prozesses - vor allem in Russland - erklärt
In Westeuropa läuft die Entwicklung auf einen föderalen supranationalen Staat zu, weil die Kernländer der EU sich bereits in der Endphase des Prozesses der Ausbreitung der Marktwirtschaft befinden. West- wie Osteuropa durchlaufen eine - jeweils qualitativ unterschiedliche - Übergangsphase. Die derzeit zu beobachtenden politischen Auseinandersetzungen über die kommende Integration rühren aus dem Grundwiderspruch zwischen der - bereits internationalisierten - Wirtschaftsstruktur und der - formal noch nationalstaatlich geprägten - politischen Struktur der beteiligten Länder her. Sieht man einmal von speziellen Varianten wie dem - von den Grünen propagierten - „Europa der Regionen“ ab, so kreist die Diskussion im wesentlichen um 3 Vorschläge:
(a) Das Commonwealth der Nationalstaaten. Diesen Vorschlag vertritt die Rechte, von Le Pen in Frankreich bis Thatcher in Großbritannien. Sie wollen zwar einen großen „Inlandsmarkt“ schaffen, dort aber die einzelnen Nationalstaaten weiter bestehen lassen. Diesen Leuten ist offensichtlich nicht klar, dass der Übergang in eine neue Phase der Vermarktwirtschaftlichung zu einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit zwischen der politischen Struktur des Nationalstaats (die für die früheren Phasen der Vermarktwirtschaftlichung typisch war) und der heutigen Struktur der internationalisierten Wirtschaft geführt hat.
(b) Die Föderation sozialistischer Staaten. Hier finden sich die Traditionssozialisten wieder, die sich der „modernisierten“ Linken verweigern und noch nicht blind dafür geworden sind, dass das alte sozialistische Ideal der sozialen Gerechtigkeit mit dem institutionellen Rahmen des neuen Europa absolut unvereinbar ist.[124] Für sie erlaubt der gegenwärtige Stand der Internationalisierung keine andere Lösung des Problems, den Wohlfahrtsstaat und die Vollbeschäftigung wenigstens in Europa beizubehalten. Nur eine relativ lockere politische Machtkonzentration - etwa in einer Staatenkonföderation ohne Aufgabe der nationalen Autonomie - könnte dies bewirken. Leider ignoriert auch dieser Vorschlag die Lehren aus der Geschichte: Wann immer durch politische Machtkonzentration versucht wurde, entweder - wie im sozialdemokratischen Westen - die ökonomische Machtkonzentration zurück zu drängen oder - wie im „real existierenden Sozialismus“ des Ostens - sie gänzlich zu vernichten, sind die einen gescheitert, die anderen im Totalitarismus geendet. Der Vorschlag übersieht also, dass man auf die Konzentration wirtschaftlicher Macht nicht mit einer gleich starken politischen Machtkonzentration antworten darf, sondern dass beide radikal dezentralisiert werden müssen. Endlich setzt dieser Vorschlag immer noch Fortschritt mit Wachstum gleich und verkennt den Zusammenhang zwischen Wachstum und wirtschaftlicher Machtkonzentration und den damit verbundenen Bruch zwischen Gesellschaft und Natur.
(c) Die Europäische Föderation. Hinter diesem Vorschlag stehen die Vertreter des neoliberalen Konsenses, also die liberalen und sozialdemokratischen Parteien. Durch einen Staatenbund wollen sie die Konzentration der politischen und wirtschaftlichen Macht bei den überstaatlichen Europa-Organen erreichen (Kommission, Parlament, Zentralbank etc.). Wenn auch zuzugeben ist, dass der Vorschlag realistischer ist als das o.g. Commonwealth, so muss man doch sehen, dass er sich vollständig der „Wachse-oder-stirb“-Dynamik der Marktwirtschaft unterwirft. Die Liberalen unterstützen ihn auch nur, weil sie sich davon eine mit der internationalisierten Marktwirtschaft kompatible politische Struktur versprechen - will sagen, eine optimale Startposition für die Halsabschneider-Konkurrenz gegen die anderen Wirtschaftsblöcke. Die Sozialdemokraten hingegen (und diejenigen grünen Realos, die den Vorschlag ebenfalls unterstützen) erwarten sich von der Föderation eine Art internationalen Etatismus, also eine europäische Zivilgesellschaft zum Schutz der Gesellschaft vor dem Markt. Nur wird dieser internationale Etatismus ebenso scheitern wie der nationale Etatismus vor ihm, und aus den gleichen Gründen. Die Institutionen, die im Vertrag über den Einheitlichen Europäischen Markt und im Maastricht-Vertrag geschaffen wurden, verwirklichen sämtliche Grundsätze des neoliberalen Konsenses.[125] Angesichts der Marktdynamik kann die sozialdemokratische Rhetorik von der Zivilgesellschaft nur utopisch klingen.
Da es nun einerseits gegen einen europäischen Staatenbund so viel Widerstand gibt, andererseits die Konvergenzkriterien von Maastricht schwer einzuhalten sind, könnte es dazu kommen, dass die EU-Länder sich an Stelle einer vollständigen Föderation auf einen Kompromiss zwischen den Vorschlägen (a) und (c) einigen. Kurz- und mittelfristig würde so ein institutioneller Rahmen für eine semi-internationalisierte politische Struktur geschaffen, die mit der internationalisierten Wirtschaftsstruktur besser vereinbar ist.
Das Ende der Politik (wie wir sie kennen)?
Die immer schneller fortschreitende Internationalisierung der Marktwirtschaft hat bereits eine Debatte über die Zukunft von Politik und Demokratie ausgelöst. Auch bei denen, die sich nichts Anderes vorstellen können als die existierenden Institutionen der Marktwirtschaft und der liberalen „Demokratie“, gibt es in Bezug auf ihre Erwartungen an die Zukunft zwei Meinungen. Für die einen wird der gegenwärtige Trend langfristig nicht nur den Nationalstaat, sondern auch die uns bekannten Institutionen für „Politik“ und „Demokratie“ auslöschen.[126] Hiervon unterscheiden sich jene „Linken“, die im Nationalstaat unverändert eine geeignete Maschinerie für die Reproduktion der Wachstumswirtschaft sehen und die Globalisierung für weit überbewertet halten.[127]
Nach Meinung der Anhänger des „Endes der Politik“ wird die politische Sphäre, in der liberalen Demokratie die Heimstätte des Gemeinwohls, in unserer von Netzwerken geprägten Zeit verschwinden. Für sie ist die Politik nichts weniger als ein Organisationsprinzip des Lebens, vielmehr „eine künstlich konstruierte, abgeleitete Aktivität, die wenig zur Lösung unserer heutigen praktischen Probleme beitragen kann“.[128] Zur Begründung heißt es, es habe sich gegenwärtig „eine tiefe Kluft aufgetan zwischen der Nation als Ort der Identität und der Nation als Machtzentrum“.[129] So steuerten wir auf ein „imperiales Zeitalter“ im doppelten Wortsinn zu - zum einen in eine vereinheitlichte Welt ohne Mitte, zum anderen in eine Periode, die
auf den Nationalstaat ebenso zwangsläufig folgen wird wie das römische Kaiserreich auf die Republik - einfach weil die Gesellschaft zu viele Menschen umschließt, als dass sie noch ein einziges politisches Gebilde darstellen könnte. Ihre Bürger sind kaum noch in der Lage, ihre gemeinsame Souveränität als Einheit auszuüben. Sie sind nur noch Rechtssubjekte, zwischen Rechten und Pflichten in einem abstrakten Raum lebend, dessen territoriale Grenzen immer undeutlicher werden.[130]
Ich selbst würde der These vom bevorstehenden Ende von „Politik „ und „Demokratie“ sofort beipflichten, sofern diese beiden Begriffe in ihrer eng gefassten Bedeutung als die heutige Staatsraison und liberale Oligarchie verstanden werden. Dieses Verständnis der beiden Begriffe vermittelt aber, wie ich in Kapitel 5 zeigen werde, eine grundlegende Verzerrung ihrer wahren Bedeutung - und danach stehen sie in der Tat vor dem Ende, wenn nicht in der Form,. so doch im Inhalt. Ebenso wie seiner Zeit mit der „Nationalisierung“ der Märkte das Todesurteil über Gemeinden, Freie Städte und Städtebünde gesprochen wurde, dürfte die Internationalisierung der Märkte das Ende von Nationalstaat und nationaler Politik einläuten. Vielleicht überleben die heutigen politischen Institutionen dieses Sterben, doch nur als Relikte aus der Vergangenheit, ohne signifikanten Inhalt - symbolische Formalien ähnlich den skandinavischen Monarchien.
Man mag also mit den Verkündern der Hypothese vom Ende des Nationalstaats - verbunden mit dem Ende von Politik und Demokratie, wie sie heute verstanden werden - einig gehen. Daraus folgt aber nicht, das man sich auch ihren Schlussfolgerungen anschließen muss. Anders gesagt: Auch wenn in dem neu entstehenden institutionellen Rahmen sinnvolle Politik und Demokratie unmöglich sind, so heißt das doch nicht, dass die eigentliche Politik und Demokratie überflüssig wären. Wirklich überflüssig ist jener institutionelle Rahmen, doch gerade den sehen beide Seiten - die Verfechter des Nationalstaats wie seine Grabhüter - als unveränderlich an!
Nehmen wir Jean-Marie Guéhenno: Er kritisiert jede territorial bestimmte politische Struktur, selbst die der Föderation, und erwartet statt dessen von der „Bildung ‘virtueller Gemeinschaften’ die Befreiung aus geografisch bedingten Zwängen und aus den überkommenen politischen Strukturen, die unser Handeln so lange geprägt haben“.[131] Dagegen lässt sich nun einiges einwenden: So sind echte Politik und Demokratie nur innerhalb eines spezifischen Territoriums möglich, und dieses wiederum muss das Föderationsgebiet geografisch definierter Gemeinden sein (siehe Kapitel 6). Das ist weder Lokalismus noch die Rückkehr zur primitiven Lebensweise, sondern dahinter steht die Gründung von Föderationen autonomer Regionen, die jeweils ein Land oder einen Kontinent und letztlich die ganze Erde umspannen. Dahinter steht auch die Überzeugung, dass individuelle und gesellschaftliche Autonomie, die sich auf Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft erstreckt, nur durch eine Re-Integration von Wirtschaft und Gesellschaft erreicht werden kann, d.h. durch Institutionen im Sinne einer alle Gesellschaftsbereiche umfassenden Demokratie (siehe Kapitel 6 und 7).
Das ist etwas ganz Anderes als der Vorschlag der Grünen vom „Europa der Regionen“ oder die ökosozialistische Idee von den „autonomen Regionen in einem vereinten Europa“.[132] Mein Konzept denkt sich nicht wie diese den Nationalstaat weg, sondern eliminiert das ganze System jener Institutionen, das durch die Trennung von Wirtschaft und Gemeinwesen die Macht in den Händen der Eliten in Marktwirtschaft und liberaler Demokratie zusammenballt.
Es ist ja kein Zufall, dass die diversen Föderationsideen ein so starkes Echo bei westeuropäischen „Identitätsbewegungen“ (Flamen, Lombarden, Schotten, Katalanen etc.) finden. Diese erhoffen sich vom Föderationsprinzip die Bewahrung ihrer kulturellen Identität, doch zugleich drücken sie damit in verzerrter Form ihr Bedürfnis nach individueller und sozialer Autonomie aus. Die Verzerrung rührt daher, dass infolge der gesellschaftlichen Vermarktwirtschaftlichung alle überlieferten Kernwerte der Gemeinschaft wie Gegenseitigkeit, Solidarität, Kooperation durch die Werte des Marktes (Konkurrenz, Individualismus) verdrängt wurden. Also bezieht sich der Drang nach kultureller Autonomie gar nicht mehr auf Gemeinschaftswerte, sondern auf Marktwerte, aus denen natürlich Spannungen und Konflikte mit anderen Kulturgemeinschaften erwachsen. Hier könnte man sofort die jüngsten rassistischen Ausbrüche in Europa nennen, denn diese hängen ebenso mit der neoliberalen Zerstörung der Gemeinschaftswerte wie mit der zunehmenden Ungleichheit und Armut im Gefolge des neoliberalen Konsenses zusammen.
Kulturell bedingte Spannungen werden allerdings mit der Errichtung einer umfassenden Demokratie nicht automatisch verschwinden, sondern noch lange Zeit anhalten. Doch kann man in einer Gesellschaft, die der Machtkonzentration ein Ende bereiten will, vernünftiger Weise auch einen Qualitätswandel in den Beziehungen zwischen den Gemeinschaften erwarten, analog zum Wandel in den Beziehungen der Menschen untereinander. Und dies wiederum ist geeignet, die kulturellen Spannungen zu vermindern.
Ich fasse zusammen: Marktwirtschaft und die etatistische Abart der „Demokratie“ haben Politik und Demokratie (herkömmlich verstanden) so stark beschädigt, dass diese praktisch entbehrlich geworden sind. Außerdem hat die Einführung der Marktwirtschaft eine Wachstumswirtschaft ins Leben gerufen, die inzwischen ihrerseits in den Ländern des Nordens wie des Südens in eine Krise geraten ist (siehe Kapitel 2-4).
[1] Siehe z.B. Immanuel Wallerstein, The Capitalist World Economy (Cambridge, Massachusetts: Cambridge University Press, 1979), Kapitel 1.
[2] Für ein jüngeres Beispiel siehe Robert Pollin, „Financial structures and egalitarian ecenomic policy”, New Left Review, Nr. 214 (November-Dezember 1995).
[3] Karl Polanyi, The Great Transformation, the Political and Economic Origins of Our Time (Boston: Beacon Press, 1944/57), S. 43-44.
[4] Polanyi, The Great Transformation, S. 55-56.
[5] Petr Kropotkin, Selected Writings on Anarchism and Revolution (Cambridge, MA und London: Massachusetts Institute of Technology, 1970), S. 231.
[6] Polanyi, The Great Transformation, S. 71.
[7] R.H. Lowie, zitiert in Polanyi, The Great Transformation, S. 270.
[8] Für anthropologisches Beweismaterial hierzu siehe Polanyi, The Great Transformation, S. 274-76.
[9] Henri Pirenne, Medieval Cities, zitiert in Polanyi, The Great Transformation, S. 275.
[10] Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur, 1972), S.75.
[11] Murray Bookchin, Urbanization Without Cities (Montreal: Black Rose Press, 1992), S. 156. Deutsch ders., Die Agonie der Stadt (Grafenau: Trotzdem Verlag, 1996), S.179.
[12] Bookchin, Die Agonie der Stadt, S.156.
[13] Ernest Barker, zitiert in April Carter, The Political Theory of Anarchism (London: Routledge, 1971), S. 30.
[14] Polanyi, The Great Transformation, S. 57.
[15] Bookchin, Die Agonie der Stadt, S. 223.
[16] Bookchin, Die Agonie der Stadt, S. 169.
[17] Polanyi, The Great Transformation, S. 63-5.
[18] Kropotkin, Selected Writings, S. 245-7.
[19] Kropotkin, Selected Writings, S. 246-53.
[20] Polanyi, The Great Transformation, S. 41-2, 75.
[21] Polanyi, The Great Transformation, S. 163.
[22] K. Smith, Free Is Cheaper (Gloucester: The John Ball Press, 1988) zitiert in David Pepper, Modern Environmentalism (London: Routledge, 1996) S. 302.
[23] Die „Logik des Wachstums“ ist aus liberaler wie aus marxistischer Sicht ausreichend analysiert worden. Zur ökologischen Analyse siehe z.B. Michael Jacobs, The Green Economy (London: Pluto Press, 1991), S. 3-49. Nützlich ist auch - trotz seiner tiefenökologischen Haltung - das Kapitel „Why capitalism needs growth“ in dem Buch: Richard Douthwaite, The Growth Illusion (Devon, UK: Resurgence, 1992), S. 18-32.
[24] Henry Teune, Growth (London: Sage Publications, 1988), S. 13.
[25] Polanyi, The Great Transformation, S. 71.
[26] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, o.J. / Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur, 1941), S.29; Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (Stuttgart: Reclam, 1989), S.25.
[27] A.G. Kenwood und A.L. Lougheed, The Growth of the International Economy, 1820-1980 (London: George Allen & Unwin, 1983), S. 74.
[28] Kenwood und Lougheed, The Growth of the International Economy, S. 79-80.
[29] Kenwood und Lougheed, The Growth of the International Economy, S. 40.
[30] Kenwood und Lougheed, The Growth of the International Economy, Tabelle 6.
[31] Kenwood und Lougheed, The Growth of the International Economy, S. 143.
[32] Kenwood und Lougheed, The Growth of the International Economy, S. 91.
[33] Will Hutton, The State We‘re In (London: Jonathan Cape, 1995), S. 174.
[34] Nicholas Barr, The Economics of the Welfare State (London: Weidenfeld & Nicolson, 1987), Kap. 2.
[35] Friedrich Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte (Essen: Neue Impulse, 2000), S.16.
[36] E. Gellner, Nations and Nationalism (Oxford: Blackwell, 1983), S. 138.
[37] Polanyi, The Great Transformation, S. 218.
[38] Polanyi, The Great Transformation. Siehe insbes. S. 233-4.
[39] Polanyi, The Great Transformation, Kap. 1.
[40] Zitiert in Victor Argy, The Postwar International Money Crisis (London: Allen & Unwin, 1981), S. 17.
[41] W.L. Goldfrank, „Fascism and the great transformation“, in Kari Polanyi Levitt (Hrsg.) The Life and Work of Karl Polanyi (Montreal: Black Rose Press, 1990), S. 90.
[42] Kenwood und Lougheed, The Growth of the International Economy, S. 185-6.
[43] Michael Bleaney, The Rise and Fall of Keynesian Economics (London: Macmillan, 1985), S. 66.
[44] Bleaney, The Rise and Fall of Keynesian Economics, S. 41-52.
[45] Bleaney, The Rise and Fall of Keynesian Economics, S. 75.
[46] Polanyi, The Great Transformation, S. 245.
[47] UK, Social Insurance and Allied Services (The Beveridge Report), Cmd. 6404 (London: HMSO, 1942).
[48] A. Maddison, Phases of Capitalist Development (London: Oxford University Press, 1982), S. 91.
[49] Zur Diskussion der betreffenden Hinweise siehe Bleaney, The Rise and Fall of Keynesian Economics, Kap. 4.
[50] Andrew Glynn, „Social democracy and full employment“, New Left Review, Nr. 211 (Mai/Juni 1995), Tabelle 1.
[51] Siehe R. Matthews, „Why has Britain full employment since the war?“, Economic Journal, Vol. 78, Nr. 3 (1968).
[52] Bleaney, The Rise and Fall of Keynesian Economics, S. 92.
[53] Ian Gough, The Political Economy of the Welfare State (London: Macmillan, 1979), Tabelle 5.2, S. 79.
[54] Ian Gough, The Political Economy of the Welfare State, Tabelle 5.1, S. 77.
[55] David Greenaway, International Trade Policy: From Tariffs to the New Protectionism (London: Macmillan, 1983), S. 153.
[56] Philip Armstrong et al., Capitalism Since World War II (London: Fontana, 1984), Tabelle 10.3, S. 215.
[57] Andrew Glynn, „Social democracy and full employment“, Tabelle 2.
[58] Eine ausgezeichnete Beschreibung der schrittweisen Aufhebung der vom Markt erzwungenen Kapitalverkehrskontrollen findet sich in: Will Hutton, The State We‘re In, Kap. 3.
[59] Siehe A.P. Thirlwall, Balance of Payments Theory (London: Macmillan, 1980), Kap. 11.
[60] Andrew Glynn und Bob Sutcliffe, British Capitalism, Workers and the Profits Squeeze (Harmondsworth: Penguin, 1972), Tabelle F.1, S. 260.
[61] Philip Armstrong et al., Capitalism Since World War II, Tabelle 11.10, S. 260.
[62] Philip Armstrong et al. Capitalism Since World War 11, S. 246.
[63] So stieg in Großbritannien zwischen 1951 und 1975 der prozentuale Anteil der gesamten Staatseinnahmen am BSP um 9%, der Anteil der Staatsausgaben jedoch um 29%; Ian Gough, The Political Economy of the Welfare State, Tabelle 5.1, S. 77.
[64] Andrew Glynn, „Social democracy and full employment“, Tabelle 1.
[65] Nick Bosanquet, After the New Right (London: Heinemann, 1983), S. 126.
[66] Siehe Yiannis Voulgaris, Liberalism, Conservatism and The Welfare State, 1973-1990 (Themelio: Athens, 1994) (griechisch).
[67] M.J. Crozier, S.P.Huntingdon und J. Watanuki, The Crisis of Democracy: Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission (New York: New York University Press, 1975).
[68] Will Hutton, The State We‘re In, S. 103.
[69] Philip Armstrong et al., Capitalism Since World War II, Tabelle 14.1.
[70] OECD, Economic Outlook, Nr. 57, 1995; und European Commission, European Economy, Nr. 59, 1995.
[71] European Commission, Eurostatistics, November 1995; OECD, Economic Outlook, Nr. 58, Dezember 1995.
[72] Hazel Henderson, Resurgence (Mai-Juni 1993), S. 10-14.
[73] Eric Helleiner, „From Bretton Woods to global finance: a world turned upside down“ in Richard Stubbs und Geoffrey R.D. Underhill, Political Economy and the Changing Global Order (London: Macmillan, 1994).
[74] Christopher Johnson, The Economy Under Mrs. Thatcher, 1979-1990 (London: Penguin, 1991) S. 168.
[75] Johnson, The Economy Under Mrs. Thatcher. Berechnet nach Tabelle 27.
[76] Andrew Glynn, „Social democracy and full employment“, Tabelle 1.
[77] International Labor Organization (ILO), Yearbook of Labor Statistics (Geneva: ILO, div. Jahre); und Frank Blackaby (Hrsg.) De-Industrialization (London: Heinemann, 1979), Tabelle 10.2.
[78] Western, „Union decline in 18 advanced capitalist countries“, zitiert in Frances Fox Piven „Is it global economics or neo-laissez-faire?“, New Left Review, Nr. 213 (Sept.-Okt. 1995).
[79] Will Hutton, The State We‘re In, S. 92.
[80] Nick Bosanquet, After the New Right, S. 126.
[81] Bob Jessop et al., „Popular capitalism, flexible accumulation and left strategy“, New Left Review (September-Oktober 1987).
[82] Will Hutton, The State We‘re In, S. 106.
[83] Alissa Goodman und Steven Webb, For Richer, For Poorer (London: Institute of Fiscal Studies, 1994), Figure 2.3.
[84] 5 Mio. Amerikaner wohnen hinter Stacheldraht, mit eigener Polizei und Sicherheitseinrichtungen (BBC Panorama 29 Januar 1996).
[85] John Kenneth Galbraith, The Culture of Contentment (London: Penguin, 1993), S. 15. Deutsch ders. Die Herrschaft der Bankrotteure (Hamburg: Hoffmann & Campe, 1992), S. 25.
[86] Will Hutton, The State We‘re In, S. 108.
[87] Galbraith, Die Herrschaft der Bankrotteure, S. 26
[88] World Bank, World Development Report 1995, Tabelle 30; Goodman und Webb, For Richer, For Poorer.
[89] Die Zahlen für die Filmindustrie stammen aus Film and Television Handbook 1993 (London: British Film Institute, 1993), Tabellen 14, 16, 38.
[90] Hervorgehoben von dem in Kanada lebenden Prof. K. Gouliamos in der Athener Wochenzeitschrift To Vema (9. Februar 1992).
[91] World Bank, World Development Report 1995, Tabellen 2, 13. (Siehe Tabelle 1.1.)
[92] World Bank, World Development Report 1994, Tabelle 9.
[93] World Bank, World Development Report 1995, Tabelle 13.
[94] Der Importanteil hat sich in Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und Schweden von 16% Anfang der 70er Jahre auf 25,7% im Zeitraum 1985-90 erhöht; Andrew Glynn, „Social democracy and full employment“, Tabelle 2.
[95] Paul Hirst und Grahame Thompson, Globalization in Question (Cambridge: Polity Press, 1996), S. 54-5.
[96] UN-TCMD, World Investment Report, 1993.
[97] The Guardian (7. März 1995).
[98] Noam Chomsky, „Rollback IV“, Z Magazine (Mai 1995).
[99] Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 51.
[100] Das entsprechende Volumen der internationalen Anleihen verneunfachte sich im Verlauf der 80er Jahre von ca. $ 96 Mrd. 1976-80 auf $ 819 Mrd. 1993; Hirst und Thompson, Globalization in Question, Tabelle 2.9.
[101] Der Auslandsanteil an staatlichen Schuldverschreibungen hat sich in den entwickelten kapitalistischen Ländern während der 80er Jahre um die Hälfte erhöht (von 10% 1983 auf 15% 1989); Hirst und Thompson, Globalization in Question, Tabelle 2.11.
[102] Andrew Glynn, „Social democracy and full employment“, S. 41.
[103] Will Hutton, The State We‘re In, S. 61.
[104] Eurostat, A Social Portrait of Europe (Luxembourg: Statistical Office of the European Communities, 1991), Tabelle 6.13, S. 72. Siehe auch Eurostat, Basic Statistics of the European Union (Luxembourg: Statistical Office of the European Communities, 1996), Tabelle 3.40
[105] Nach einem kürzlichen Vergleich der Arbeitskosten für einen Standardwarenkorb im Wert von $ 100 betragen diese Kosten in Randländern wie Griechenland und Portugal $ 50 gegenüber $ 85 in Deutschland und Dänemark; OECD/ The Observer (10/9/95).
[106] Eurostat, Basic Statistics of the Community (Luxembourg: Statistical Office of the European Communities, 1992), Tabellen 2.12-2.19, S. 56-65.
[107] Siehe z.B. Mica Panic, European Monetary Union (London: St Martin‘s Press, 1993).
[108] Polanyi, The Great Transformation, S. 29.
[109] Richard Stubbs und Geoffrey R.D. Underhill, „Global issues in historical perspective“ in Political Economy and the Changing Global Order (London: Macmillan, 1994), S. 156.
[110] UN, Development Report, 1992.
[111] Hirst und Thompson, Globalization in Question.
[112] Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 3.
[113] Suzan Strange, „Rethinking structural change in the international political economy: states, firms and diplomacy“ in Stubbs und Underhill, Political Economy and the Changing Global Order, S. 104.
[114] Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 6.
[115] Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 17
[116] Dies wird etwa aus folgender Aussage deutlich: „Die nationalen Regierungen haben sich angesichts einer überwältigenden ‚Finanzglobalisierung‘ keineswegs machtlos gezeigt. Sie haben sich vielmehr zusammen getan, um die neue Situation besser überwachen zu können. Dennoch bleibt es damit bei der begrenzten Überwachung der vom Markt bestimmten Außenwirtschaft. Mit der Regulierung wird nicht versucht, in die Preisbildung durch den Markt im Hinblick auf die Richtung der Kapitalströme einzugreifen“; Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 134-5.
[117] Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 152.
[118] Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 163.
[119] Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 15.
[120] Hirst und Thompson, Globalization in Question, S. 27.
[121] Die von Hirst und Thompson verwendete statistische Maßzahl (Zahlungsbilanz im Verhältnis zum BIP) ist im Falle der USA offensichtlich kein geeigneter Indikator der finanziellen Offenheit. Der Zahlungsbilanzüberschuss der USA verminderte sich drastisch von $ 32,3 Mrd. (1960-67) auf weniger als $ 5 Mrd. (1968-81) (Phillip Armstrong et al., Capitalism Since World War II (London: Fontana, 1984), Tabellen 10.7, 12.2, 16.6). Dem entsprechend hätten der Kapitalabfluss und die finanzielle Offenheit der USA zurück gehen müssen. Die amerikanischen Direktinvestitionen in den anderen entwickelten kapitalistischen Ländern stiegen jedoch von 3,4% der gesamten US-Investitionen 1960-69 auf 4.4% 1970-79 (Grazia Ietto-Gillies, „Some indicators of multinational domination of national economies“, International Review of Applied Economics, Vol. 3, Nr. 1, 1989, Tabelle 1); es trat also das genaue Gegenteil ein! Der einleuchtende Grund: Als Land mit einer wichtigen Reservewährung haben die USA es nicht nötig, wie andere Länder ihre Auslandsinvestitionen mit ihren Zahlungsbilanzüberschüssen zu finanzieren. Daher ist bei einem Reservewährungsland wie den USA - trotz seiner enormen finanziellen Bedeutung - das Zahlungsbilanz-BIP-Verhältnis als Maß für die finanzielle Offenheit ungeeignet.
[122] Siehe Takis Fotopoulos, The Gulf War: The First Battle in the North-South Conflict (Athens: Exantas, 1991) (griechisch).
[123] Robert W. Cox, „Global restructuring: making sense of the changing international political economy” in Richard Stubbs und Geoffrey R.D. Underhill, Political Economy and The Changing Global Order, S. 53.
[124] Siehe z.B. Eric Heffer, „A rallying call for Eurosocialists”, The Guardian (1. Nov. 1990).
[125] Siehe auch Takis Fotopoulos, The Neoliberal Consensus and The Crisis of the Growth Economy (Athens: Gordios, 1993), Kap. 12 (griechisch).
[126] Jean-Marie Guéhenno, The End of the Nation-State (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1995).
[127] Siehe z.B. Robert Wade, Globalization and Its Limits: The Continuing Economic Importance of Nations and Regions (University of Sussex: Institute of Development Studies, 1994); Linda Weiss und John Hobson, States and Economic Development: A Comparative Historical Analysis (Cambridge: Cambridge University Press, 1995); sowie Hirst und Thompson, Globalization in Question.
[128] Jean-Marie Guéhenno, The End of the Nation-State, S. 19.
[129] Jean-Marie Guéhenno, The End of the Nation-State, S. 138.
[130] Jean-Marie Guéhenno, The End of the Nation-State, S. xii.
[131] Jean-Marie Guéhenno, The End of the Nation-State, S. 141.
[132] Penny Kemp et al., Europe‘s Green Alternative: A Manifesto for a New World (London: Greenprint, 1992), S. 42.
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