Umfassende Demokratie:  Die Antwort auf die Krise der Wachstums-und Marktwirtschaft


TEIL I: DIE KRISE DER WACHSTUMSWIRTSCHAFT


 

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KAPITEL 2 : Die Wachstumswirtschaft und der „sozialistische“ Etatismus

 

Die moderne Wachstumswirtschaft entstand aus der Wachse-oder-stirb-Dyna­mik der Marktwirtschaft und des einsetzenden Prozesses der Vermarkt­wirt­schaftlichung (siehe Kapitel 1). Es gibt aber auch eine andere Wachstumswirtschaft. Sie verdankte ihre Existenz dem „real existierenden Sozialismus“ und brachte Wachstum nicht aus ihrer wirtschaftlichen Dynamik heraus mit sich, sondern als bewusst angesteuertes Ziel mit sich. Unter einer Wachstumswirtschaft wollen wir ein Wirtschaftssystem verstehen, welches - gleich ob „objektiv“ oder bewusst herbeigeführt - auf maximales Wirtschaftswachstum abzielt. In der Geschichte finden wir sie zweimal: als „kapitalistische“ und als „sozialistische“ Variante. In beiden, sowie in der sozialdemokratischen Mischform, verfolgt man das gleiche Ziel - nämlich maximales Wachstum - mit unterschiedlichen Mitteln. Allerdings entsprechen Mittel und Zweck einander im Kapitalismus erheblich besser als im Sozialismus, weshalb die sozialistische Wachstumswirtschaft inzwischen auch gescheitert ist.

Ich will in diesem Kapitel zunächst beleuchten, in wie fern sich der Sieg der Wachstumswirtschaft aus Wechselwirkungen zwischen der „Ideologie des Wachstums“ und der Dynamik der Marktwirtschaft erklären lässt. Denn im Gegensatz zu den meisten Grünen bin ich nicht der Ansicht, Hauptauslöser der Wachstumswirtschaft sei die „Ideologie des Wachstums“, also das seit der industriellen Revolution gültige Wertesystem, sondern ich sehe in dieser Ideologie nur eine - angeblich objektive - Begründung für die Marktwirtschaft und ihre Dynamik, welch letztere dann automatisch zur kapitalistischen Wachstumswirtschaft geführt hätte. Dann gelten nämlich wirtschaftliche Machtkonzentration und Umweltzerstörung gleichzeitig als Folgen wie als Grundvoraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums. Das Heilmittel kann aber nicht in der naiven Empfehlung radikaler Grüner liegen, eben mal unser Wertesystem zu verändern oder Wirtschaftswachstum per se zu verdammen. Es kommt vielmehr darauf an, eine neue Gesellschaft zu errichten, die ohne die Herrschaft des Menschen über den Menschen - und über die Natur - auskommt. Wie ich zeigen will, lässt sich dieses Ziel aber nur erreichen, wenn man nicht nur die Wachstumsideologie beseitigt, sondern die komplette Marktwirtschaft.

Weiter will ich die „sozialistische“ Form der Wachstumswirtschaft behandeln, außerdem das nachfolgende System in seiner „kapitalistischen“ (Osteuropa) und „sozialistischen“ (China, Vietnam, Laos) Ausprägung, um dann den Zusammenbruch der westlich-sozialdemokratischen Wachstumswirtschaft zu erörtern. Dabei werde ich vor allem den Niedergang der Sozialdemokratie in ihrer westeuropäischen Herkunftsregion beleuchten. Schließlich werde ich mich wieder der sozialistischen Wachstumswirtschaft zuwenden und erörtern, warum sie - und mit ihr der gesamte Staatssozialismus - zusammenbrechen musste.

 

Der Siegeszug der Wachstumswirtschaft


 

Die zwei Arten der Wachstumswirtschaft

 

In Kapitel 1 haben wir gesehen, dass die Geschichte der Marktwirtschaft von zwei Erscheinungen - der Vermarktwirtschaftlichung und dem Wachstum - und von der Triebkraft der Konkurrenz bestimmt war. Dabei spaltete sich die politische und wissenschaftliche Intelligenz der Industrieländer bezüglich der Vermarktwirtschaftlichung in zwei Lager, das liberale und das sozialistische. Nicht so bei der zweiten Komponente, dem Wirtschaftswachstum: Sowohl für die kapitalistische wie für die sozialistische Variante der Wachstumswirtschaft wurde dieses zum bestimmenden gesellschaftlichen Paradigma (also zum allen gesellschaftlichen Institutionen zu Grunde liegenden Glaubens-, Ideen- und Wertesystem). Nicht nur die Liberalen, sondern auch die Sozialisten verfolgten das Ziel des Wirtschaftswachstums, obgleich es doch primär ein Element der Marktwirtschaft ist und diese gerade unter dem „real existierenden Sozialismus“ durch ein System zentraler Planung ersetzt werden sollte.

 

Mit der Unterscheidung in eine kapitalistische und eine sozialistische Wachstumswirtschaft will ich diese Systeme nicht inhaltlich charakterisieren, sondern nur die unterschiedliche Allokation der wirtschaftlichen Ressourcen andeuten, denn gerade die Regimes des „real existierenden Sozialismus“ waren - selbst nach klassisch marxistischer Sichtweise - alles andere als sozialistisch.[1] Wenn es um die Grundfrage der Wirtschaft geht - was soll wie und für wen produziert werden - dann überlässt der Kapitalismus die Entscheidung dem Preismechanismus, der Sozialismus hingegen einer zentralen Planungsmaschinerie. Dem gemäß verstehe ich also unter der „kapitalistischen Wachstumswirtschaft“ das im Westen verbreitete System, das seine Blütezeit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte, zunächst unter sozialdemokratischer und dann unter neoliberaler Ägide. Der Terminus „sozialistische Wachstumswirtschaft“ meint das bis 1989 im Osten, also in den Ländern des „real existierenden Sozialismus“, herrschende Wirtschaftssystem.

 

Diese Unterscheidung ist notwendig, denn obgleich im „Sozialismus“ die Produktionsmittel nach Eigentum und Kontrolle nur formal vergesellschaftet waren, so ist doch die Ressourcenallokation mittels zentraler Planung etwas wesentlich Anderes als der Preismechanismus. Im Kapitalismus (und auch in der „sozialistischen Marktwirtschaft“) folgen sowohl das Oberziel Wachstum als auch die Unterziele Effizienz und Konkurrenzfähigkeit aus der inneren Logik und Dynamik des System selbst, im „Sozialismus“ hingegen sind sie Ergebnis politischer Planungsaktivitäten der Funktionäre, also von außen oktroyiert. Eine durchgeplante Wirtschaft könnte also durchaus andere Ziele verfolgen als eine Marktwirtschaft. Man wird zwar die Produktivkräfte so weit entwickeln müssen, dass zumindest die Grundbedürfnisse befriedigt werden, doch bedeutet das nicht, dass man in eine Wachstumskonkurrenz mit dem Kapitalismus - also auch in die entsprechende Effizienzkonkurrenz - eintreten müsste. Denn wie gesagt, unter dem Kapitalismus ergibt sich Wachstum automatisch aus der mikro-ökonomischen Marktwirtschaft, unter dem Sozialismus ist es ein bewusst angesteuertes makro-ökonomisches Ziel.

 

Abgesehen davon haben aber die beiden Typen der Wachstumswirtschaft sehr viel gemeinsam - vor allem Machtkonzentration und Umweltzerstörung. Dies wiederum ergibt sich aus dem gemeinsamen Unterziel Effizienz, die man nämlich in beiden Systemen an dem engen technisch-wirtschaft­lichen Kriterium der Input-Output-Relation misst statt am Maß der menschlichen Bedürfnisbefriedigung, die doch angeblich das Ziel allen Wirtschaftens ist.[2] So mochte die wirtschaftliche Machtkonzentration im Sozialismus eine Folge der politischen Machtkonzentration in den Händen der Partei sein, im Kapitalismus hingegen automatisch aus den Mechanismen der Wirtschaft erwachsen. Gleichwohl erzwang das gemeinsame Ziel der Wachstums- und Effizienzmaximierung in Ost und West die gleichen Massenproduktionsverfahren. Und weil beide Systeme in ihrem Effizienzbegriff gewisse Kosten - insbesondere die durch Wachstum verursachten Umweltschäden - „externalisieren“, d.h. außen vor lassen, finden wir diese Schäden heute auf dem ganzen Erdball.

Die Wachstumswirtschaft und ihre Ideologie

Sucht man nach den Gründen für den Siegeszug der Wachstumswirtschaft, so ist es vielleicht nützlich, sich einmal das Zusammenwirken zweier Faktoren anzuschauen, die maßgebenden Anteil an diesem Sieg haben. Es sind zum einen die „objektiven“ und zum andern die „subjektiven“ Faktoren. Objektiv wirkte die Wachse-oder-stirb-Dynamik der Marktwirtschaft, subjektiv die Wachstumsideologie. Allerdings wirkten diese beiden Faktoren unter kapitalistischen und sozialistischen Verhältnissen nicht in gleicher Weise. Im Kapitalismus waren es hauptsächlich die objektiven Faktoren, welche die Wachstumswirtschaft antrieben; subjektive „Wachstumswerte“ spielten allenfalls eine ideologische Rolle zur Rechtfertigung der Marktwirtschaft. Anders im Sozialismus: Da die Aufklärung, die ja die junge sozialistische Bewegung stark beeinflusste, den Fortschritt mit der Entwicklung der Produktivkräfte identifizierte, hatten derartige subjektive Faktoren entscheidenden Anteil an Aufstieg und Reproduktion der „sozialistischen“ Wachstumswirtschaft, objektive Faktoren hingegen hatten keine auslösende, sondern nur eine reproduktive Wirkung.

 

Will man die Wachstumsideologie definieren, so ist es einfach die „gesellschaftliche imaginäre Bedeutung, grenzenloses Wachstum der Produktivkräfte und der Produktion sei de facto das oberste Ziel der menschlichen Existenz“.[3] Sie entstand im Gefolge der Industriellen Revolution und der durch die Marktwirtschaft ausgelösten Wachse-oder-stirb-Dynamik, blickt also schon auf ein Alter von mehr als 200 Jahren zurück. Von Adam Smith[4] bis Karl Marx[5] rang man mit dem Grundproblem: Wie kann die Menschheit mittels Wissenschaft und Technik das Wirtschaftswachstum maximieren? Vor allem Marx konnte die Bedeutung schnellen Wachstums gar nicht genug betonen, wie sich auch in einer kürzlich erschienenen marxistischen Studie zeigt:

Wenn Marxisten den Kapitalismus angreifen, dann wollen sie häufig nur einen wirtschaftlichen Rationalismus durch einen anderen ersetzen: ein krisengeschütteltes Wachstum durch ein krisenfreies und dadurch beschleunigtes [Hervorhebung TF], eine ineffiziente und verschwenderische Ressourcenzuordnung durch bessere, weil genauere und umfassendere Berechnungsmethoden[6]).

Die Wachstumsideologie hat sich sowohl der liberalen Ideologie der kapitalistischen Wachstumswirtschaft als auch der sozialistischen Ideologie der sozialistischen Wachstumswirtschaft zu Seite gestellt. Sie ist in diesem Sinne zum ideologischen Fundament beider Wirtschaftssysteme geworden, unbeschadet der Abweichungen in den Strukturen der jeweiligen hierarchischen Machtapparate. Außerdem hat sie die Rolle einer „höchsten Entscheidungsinstanz“ gespielt, nämlich bei der Frage, welches der beiden ideologischen Systeme am Ende den Sieg davon tragen würde. Da der Sozialismus auf wirtschaftlichem Gebiet versagte (er hat ja keine Konsumgesellschaft nach westlichem Vorbild zu Stande gebracht), gilt das ganze System als gescheitert, und die kapitalistische Wachstumswirtschaft und ihre Ideologie, der Liberalismus, glänzen als Sieger.

 

Die gemeinsame Ideologie hat auch zu vergleichbaren Umweltproblemen geführt. So wenig die Marxisten mit ihrer Annahme Recht haben, an den heutigen Machtkonzentrationen seien die kapitalistischen Produktionsverhältnisse schuld, so wenig trifft die ökomarxistische Anklage zu, die Umweltkrise könne allein auf Kapitalverhältnisse und Produktionsbedingungen zurückgeführt werden.[7] Letzteres kann schon allein deswegen nicht stimmen, weil es nicht erklärt, warum in den Ländern des „real existierenden Sozialismus“ (wo mangels Eigentum an den Produktionsmitteln gar keine kapitalistischen Produktionsverhältnisse herrschen) die Ökokrise so viel ausgeprägter war. Die Ökomarxisten übersehen eben bei ihrer Fixierung auf den Kapitalismus die Bedeutung der Wachstumsideologie auf Theorie und Praxis des sozialistischen Etatismus oder Staatssozialismus. Die westlichen Umweltschützer und Realogrünen gehen allerdings auch zu weit, wenn sie die Ökokrise ausschließlich der Wachstumsideologie anlasten und dabei die Institutionen und Machtverhältnisse der Marktwirtschaft außer Betracht lassen.

 

Wollen wir also die ökologische Krise richtig interpretieren, dann dürfen wir nicht wie die Ökomarxisten allein die Wechselwirkung zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktionsbedingungen im Kapitalismus ins Auge fassen, sondern auch die zwischen der Ideologie und den Machtverhältnissen, wie sie die Konzentration in einer hierarchischen Gesellschaft erzeugt. Bookchin erinnert an die Vorgeschichte:

Es waren die gerontokratischen und patriarchalischen Institutionen der Gesellschaft und nicht ihr Verlangen nach Macht über die Natur, die in der Gesellschaft die Idee von der Naturbeherrschung entstehen ließ. Nicht aus den (für Marx so bedeutsamen) Formen der Arbeitsorganisation entstand Herrschaft, sondern aus verschiedenen gesellschaftlichen Institutionalisierungen (...) Will man also Herrschaft endgültig aufheben, so muss man sich Problemen stellen, die in Hierarchie- und Statusfragen wurzeln und nicht allein in Klassenverhältnissen oder in der technischen Naturbeherrschung.[8]

Dem wäre nur hinzuzufügen, dass zwar die Idee von der Naturbeherrschung so alt ist wie der Herrschaftswunsch überhaupt in der hierarchischen Gesellschaft, dass diese Idee als Massenphänomen jedoch erst zusammen mit der Marktwirtschaft und der daraus entstehenden Wachstumswirtschaft aufkam. Wir können die Umweltkrise nur verstehen, wenn wir zunächst die hierarchische Gesellschaft im Lauf der Geschichte betrachten und dann deren heutige Form untersuchen, bei der die Elite sich vornehmlich der ökonomischen Macht bedienen kann.

 

Es wurde schon erwähnt, dass die kapitalistische und die sozialistische Wachstumswirtschaft sich zwar in den Institutionen, nicht aber in der Ideologie unterscheiden. Beides - die Differenz wie die Übereinstimmung - ist gleichermaßen relevant bei der Beantwortung der Frage, welches Produktionsziel die jeweilige Machtelite eigentlich verfolgt und wie sich das auf die ökologischen Folgen des Wachstums auswirkt.

  • Im Kapitalismus müssen die Herren über die Produktionsmittel (Kapital, Boden und Arbeitskräfte) angesichts der Vermarktwirtschaftlichung danach streben, alle gesellschaftlichen Marktkontrollen zu minimieren, gleich ob diese dem Schutz der Arbeiter oder dem der Umwelt dienen.

  • Im Sozialismus haben die Planer theoretisch durchaus die Möglichkeit, ökologische Faktoren in ihrer Planung zu berücksichtigen. De facto würden damit aber Wachstum und Effizienz unter ihr mögliches Maximum gedrückt, und man würde der kapitalistischen Wachstumswirtschaft noch stärker hinterher hinken.

 

Wie man leicht sieht, führt in beiden Wirtschaftsformen die systemimmanente Wachstums- und Effizienzlogik dazu, dass Umwelt und Natur entweder als Kostenfaktor außen vor gelassen oder aber geradezu im Sinne dieser Logik instrumentalisiert werden.

 

Machtkonzentration in der Wachstumswirtschaft

 

In Kapitel 1 wurde gezeigt, warum bei privater Verfügung über die Produktionsmittel die mechanisierte Produktion zweierlei nach sich zog: Erstens die Vermarktwirtschaftlichung (infolge der Bestrebungen zur Minimierung sozialer Marktkontrollen), zweitens das Wirtschaftswachstum (infolge der unablässigen, mikroökonomisch gewinnorientierten Absatz- und Effizienzsteigerung mittels neuer Technologien, Produktionsverfahren und Produkte). Sowohl nach der orthodoxen wie nach der marxistischen Wirtschaftstheorie verlangen Wachstums- und Effizienzmaximierung unabweislich nach zunehmender Arbeitsteilung und Spezialisierung sowie nach expandierenden Märkten. Daher hat der technische Fortschritt auch stets nur der Effizienzsteigerung gedient, also immer weiter gehender arbeitsteiliger Spezialisierung, und hat sonstige wirtschaftliche und soziale Folgen außer Acht gelassen. Indem nun diese Art von Wachstum durch immer stärkere Nutzung der mit der Arbeitsteilung verbundenen komparativen Vorteile geprägt war, wurde das Prinzip der Selbstversorgung aufgegeben, mit erheblichen negativen Folgen sowohl wirtschaftlicher (Armut, Arbeitslosigkeit und Krisen), kultureller (Auflösung sozialer Bindungen und Werte), aber auch ökologischer und ganz allgemein gesellschaftlicher Natur (drastischer Rückgang der individuellen und sozialen Autonomie).

 

Dieses Gewinnstreben durch Effizienzsteigerung und Marktexpansion führte zwangsläufig zu einer Konzentration der wirtschaftlichen Macht in den Händen der Eliten. Es lässt sich zeigen, dass „zwischen der Profitabilität einer Industrie und ihrer Marktkonzentration ein gesicherter gleichläufiger Zusammenhang besteht“ (so eine kürzliche Analyse[9]). Gewinnstreben bei den Herren des Marktes führt offensichtlich zur Konzentration. Während dies in der Frühphase der Ausbreitung der Marktwirtschaft eine Folge des zunehmenden Einsatzes großer Produktionseinheiten und der entsprechenden Mengeneffizienz war, können in der heutigen internationalisierten Marktwirtschaft die Kapitalgesellschaften nur überleben, wenn sie „qualitativ hochwertige, spezialisierte Nischenprodukte produzieren, also die Mengen- durch die Qualitätskonkurrenz ersetzen“.[10] In der modernen Technologie der postindustriellen Gesellschaft geht also die Konzentration wirtschaftlicher Macht einher mit diversifizierender Abkehr von der Massenproduktion. Nur führt diese Abkehr vielleicht zu kleineren Produktionseinheiten, aber keineswegs zu weniger Machtkonzentration, wie sich etwa darin zeigt, dass die 500 führenden transnationalen Unternehmen zwei Drittel des Welthandels kontrollieren (davon 40% unternehmensintern) und dass ihre Zentralen sämtlich in den Ländern des Nordens (sowie in Südkorea) angesiedelt sind.[11]

 

Im Gegensatz zu der von klassischen Anarchisten vertretenen Meinung,[12] es gebe eine naturgegebene Tendenz hin zu einer dezentralen anarchistischen Gesellschaft (einige glauben das heute noch, ebenso wie die Vertreter des Bio-Regionalismus), gibt es also einen langfristigen Markttrend zur wirtschaftlichen Machtkonzentration selbst dort, wo die Produktion physisch dezentralisiert wird - eine Konzentration sowohl unter den Ländern (makroökonomisch) als auch unter den Unternehmen (mikroökonomisch).

 

So glaubte Kropotkin, der im Ländervergleich einen Rückgang des britischen Anteils an den Weltexporten beobachtete, eine zunehmend dezentralisierte Industrieproduktion feststellen und daraus eine „aufeinanderfolgende Entwicklung der Nationen“ prognostizieren zu können.[13] Inzwischen wissen wir im Rückblick, dass es hierzu nie kam und wir statt dessen die größte Wirtschaftskonzentration, die es je gab, konstatieren müssen. Bekanntlich ist, seit die Marktwirtschaft des Nordens die traditionellen Wirtschaftssysteme des Südens zu durchdringen begann, die Kluft zwischen diesen beiden Weltregionen enorm gewachsen. Als vor 200 Jahren der Prozess der Vermarktwirtschaftlichung einsetzte, betrug das Pro-Kopf-Einkommen in den reichen Ländern das Anderthalbfache der armen Länder[14]; um 1900 war das Verhältnis auf 6:1 gewachsen. Als dann um 1950 die Marktdurchdringung von Nord nach Süd einsetzte, betrug das Verhältnis 8,5:1 und nahm seitdem rapide zu. Um 1970 war es schon 13:1.[15] Man betrachte auch den Produktions- und Exportanteil des Nordens: Ersterer wuchs zwischen 1970 und 1992 von 74 auf 79%, letzterer zwischen 1979 und 1992 von 66% auf 75%.[16]

 

Wenn also Kropotkin Umschichtungen unter den Metropolen, etwa im Export, beobachtete, so hat das nicht verhindert, dass heute Reichtum, Einkommen, Produktion und Exporte bei weniger als einem Siebentel der Erdbevölkerung konzentriert sind. Auch der Handel wird direkt oder indirekt durch die kapitalistischen Wirtschaftseliten beherrscht. So ist ungeachtet der Tatsache, dass die Produktion der transnationalen Konzerne des Nordens sich in andere Länder verlagert hat, der Exportanteil der G7 von 1953 bis 1993 praktisch unverändert geblieben, nämlich 52%.[17] Die „Triade“ mit nur 14% der Weltbevölkerung (1990) zog im Zeitraum 1980-91 75% der Auslandsinvestitionen an sich; ihr Anteil am Welthandel und am Welteinkommen betrug jeweils 70%.[18]

 

Auch auf der Unternehmensebene lässt sich der Trend zu Konzentration leicht nachweisen. So erhöhten die 100 größten britischen Industrieunternehmen ihren Anteil an der Produktion von 16% 1909 über 24% 1935 und 32% 1958 schließlich auf ca. 40% in den 70er und 80er Jahren[19]; Ähnliches lässt sich in den anderen Metropolenländern beobachten.[20] Wenn sich dieser Trend in jüngster Zeit abzuflachen scheint, so liegt das weniger an einer Abschwächung der Konzentration, sondern an den neuen Fragmentierungsstrategien der Großunternehmen (Eigentumsaufteilung, Einsatz von Subunternehmen, Lizenzvergaben, Franchisen u. dgl.). Diese Fragmentierungsstrategie[21] hat wohl auch bei der Zunahme der Kleinunternehmen in den 90ern eine Rolle gespielt (mehr jedoch die Expansion des Dienstleistungssektors). Die postindustrielle Gesellschaft mag also eine beträchtliche Diversifikation der Produktion mit sich gebracht haben, sie hat aber keinesfalls den Trend zur wirtschaftlichen Machtkonzentration umgekehrt, die sich übrigens auch in der massiven Konzentration von Investitionskapital bei wenigen Unternehmen manifestiert. So verfügen die 100 größten Multis über ein Drittel aller Auslandsinvestitionen.[22] Die diversen „Futurologen“,[23] die von einer „Entmassung“ der Welt (im Sinne einer größeren Machtaufteilung) und von einer nach dem Ende der zweiten Phase der Industrialisierung heraufziehenden, die Diversität betonenden „dritten Phase“ reden, kann man unter diesem Blickwinkel getrost als Apologeten der heutigen Machtkonzentration bezeichnen.

 

Nun war aber solche Machtkonzentration kein Vorrecht der kapitalistischen Wachstumswirtschaft, sondern spielte sich in ganz ähnlicher Weise in der sozialistischen Wachstumswirtschaft ab. In dieser Hinsicht unterschieden sich also die beiden Wirtschaftssysteme nur in dem Punkt, wer die Produktionsmittel besitzt und wie über ihren Einsatz entschieden wird.

 

Im Zusammenhang mit der Eigentümerfrage müssen wir feststellen, dass sowohl unter dem privatkapitalistischen als auch unter dem staatssozialistischen System vor allem Partialinteressen verfolgt werden, weil nämlich in beiden Fällen auf Grund des Eigentumsrechts einer Minorität die Kontrolle über die Produktion zufällt - in der Marktwirtschaft direkt, kraft privaten Eigentums, im „real existierenden Sozialismus“ indirekt, durch das bürokratische Verfügungsrecht über Staatseigentum. Nur ist in der kapitalistischen Wachstumswirtschaft die wirtschaftliche Machtkonzentration ein Ergebnis der Marktmechanismen, während sie im Sozialismus der Planungselite als Folge der politischen Machtkonzentration zufällt.

 

Was nun die Ressourcenallokation betrifft, so führen beide - der Markt wie der Planungsmechanismus - zu einer Privilegierung weniger auf Kosten vieler. Der Markt bringt das automatisch zu Wege, nämlich über die von ihm initiierte ungleiche Einkommensverteilung, in der Planwirtschaft hingegen werden die Privilegien der bürokratischen Elite per Institutionalisierung verankert.

Auch ein zweiter Vergleich lässt sich ziehen. Wie unter gewissen Bedingungen - wenn sich nämlich der Sozialismus politisch als „Rätedemokratie“ und ökonomisch als Zentralplanungswirtschaft präsentiert - die sozialistische Machtkonzentration eine Art „Nebenprodukt“ ist, so ist sie das im Kapitalismus ebenfalls, sofern sich der Liberalismus politisch als parlamentarische „Demokratie“ und ökonomisch als Marktwirtschaft verkörpert. Die jeweilige Ideologie - Marxismus bzw. Liberalismus - muss dann zur Rechtfertigung der Machtkonzentration herhalten. Im Sozialismus gilt diese als „Übergangsphase“ auf dem Weg zum Kommunismus; im Liberalismus soll zwar ein fundamentales „Vorrecht für das Individuum“ universelle Geltung besitzen, doch verstößt die Machtkonzentration so lange nicht dagegen, wie sie als „legal“ anzusehen ist. Demnach ist vom „real existierenden Sozialismus“ ebenso wenig die Befreiung der Menschen zu erwarten, wie vom „real existierenden Kapitalismus“ eine echte Stärkung des „Vorrechts für den Einzelnen“.

Natürlich ist wirtschaftliche Machtkonzentration nicht erst eine Erscheinung der Neuzeit. In allen hierarchischen Gesellschaften ist die politische und militärische Machtkonzentration mit einem gewissen Reichtum der Eliten einher gegangen - „gerechtfertigt“ üblicherweise durch religiös gefärbte gesellschaftliche Regeln. Das Neuartige an der Wachstumswirtschaft liegt in der Reproduktion der Gesellschaft selbst, indem diese wie auch die Macht der herrschenden Eliten entscheidend davon abhängt, ob das Wachstumsziel erreicht wird, welches wiederum mit dem Fortschritt gleichgesetzt wird. Wachstum ist hier nicht nur ein grundlegendes wirtschaftliches und soziales Ziel, sondern dient auch dazu, die für die moderne hierarchische Gesellschaft so charakteristische ungleiche Verteilung von politischer und wirtschaftlicher Macht aufrecht zu erhalten. Zugleich ist es ein zentrales Element der das Ganze stützenden Ideologie. So entwickelte die hierarchische Gesellschaft neue Formen mit dem Aufkommen der Marktwirtschaft im Westen und der Planwirtschaft im Osten. In dieser neuen Form leitet die Elite ihre Machtstellung nicht mehr wie zuvor aus der politischen, militärischen oder allgemein gesellschaftlichen Macht ab, sondern vornehmlich aus der Konzentration wirtschaftlicher Macht, gleich ob diese dem Marktmechanismus oder dem Planungszentralismus zu verdanken ist.

In der Tatsache, dass die moderne hierarchische Gesellschaft sich nur unter der Bedingung maximalen Wirtschaftswachstums reproduzieren kann, liegt jedoch ein fundamentaler Widerspruch verborgen. Hierbei nun denken die Meisten an die durch das unablässige Wachstum verursachten Umweltschäden. Ich hingegen meine damit die für die Reproduktion der Wachstumswirtschaft notwendige Konzentration ihrer Wohltaten auf einen winzigen Bruchteil der Weltbevölkerung, d.h. die schreiende Ungleichheit der Einkommensverteilung auf der Erde. Der Widerspruch liegt in Folgendem begründet:

  • Es ist schon physisch unmöglich, die verschwenderischen Konsumstandards der „40-Prozent-Gesellschaft“ des Nordens und der Eliten des Südens auf die gesamte Menschheit zu übertragen. „Der materielle Verbrauch der industrialisierten Welt kann nicht für Alle gelten, denn das würde einen riesigen Produktionssprung erfordern. Die Weltindustrieproduktion müsste sich auf das 130fache erhöhen“.[24] Und selbst dieses ohnehin unerreichbare Ziel lässt noch das Bevölkerungswachstum und den weiteren materiellen Zuwachs außer Betracht.[25] In diesem Sinne ließe sich sagen, dass das derzeitige rasche Wachstum in Ländern wie China (wo das BIP in den Jahren 1980-93 um 9,6% p.a. zunahm[26]), physisch nur bei entsprechender Zunahme der Ungleichheit aufrecht erhalten werden kann.

  • Eine universelle Wachstumswirtschaft ist auch mit der Umwelt unverträglich, wenigstens beim heutigen Stand der Technik und angesichts der Kosten „umweltfreundlicher“ Technologien. Anders gesagt, angesichts der Einkommensverteilung können so teuere Technologien gar nicht Allen zu Gute kommen. Es ist auch fraglich, ob ihr umwelt­freundlicher Charakter bei einer Ausbreitung über die ganze Erde noch gewahrt bliebe.

 

Die Konzentrationsvorgänge und die ökologischen Schäden sind nicht nur Konsequenzen der Wachstumswirtschaft, sondern Grundvoraussetzungen für deren weitere Existenz. Die konsumkritischen „Zivilgesellschaftler“ liegen völlig falsch mit ihrer Hoffnung, die Eliten der Triade würden angesichts der Gefahr, die von der wachsenden Ungleichheit für die Nachfrage ausgeht, eine weltweite Mischwirtschaft einführen.[27] Das Gegenteil trifft zu: Weit davon entfernt, von der zunehmenden Ungleichheit unter der internationalisierten Marktwirtschaft bedroht zu werden, hängt die Wachstumswirtschaft des Nordens geradezu elementar davon ab. Denn so wenig ihre Produktion ohne Ausplünderung der Natur aufrecht erhalten werden kann, so wenig ist ihre physische Reproduktion denkbar ohne eine immer extremere wirtschaftliche Machtkonzentration.

Wie man sieht, ist die heutige Konzentration politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht in den Händen der herrschenden Eliten nicht nur ein aus der Industriellen Revolution und ihrem Wertekanon abgeleitetes kulturelles Phänomen, auch wenn große Teile der Ökologiebewegung das naiver Weise noch glauben. Daher lässt sich auch ein ökologisches Gleichgewicht nicht einfach dadurch erreichen, dass wir nur unser Wertesystem ändern (Wachstumslogik, Konsumfetischismus etc.), um hinfort eine ökologische Lebensweise führen zu können. Nein, die Machtkonzentration ergab sich zwangsläufig aus einem langen historischen Prozess, an dessen Anfang die Errichtung einer hierarchischen Gesellschaftsordnung und der Herrschaft von Menschen über andere Menschen und über die Natur stand[28] und der in den letzten 200 Jahren in der Marktwirtschaft und ihrem Abkömmling, der Wachstumswirtschaft, gipfelte.

 

Da also Markt-/Wachstumswirtschaft und wirtschaftliche Machtkonzentration zwei Seiten der selben Medaille sind, können weder diese Konzentration noch die ökologischen Folgen des Wachstums beseitigt werden, solange wir im institutionellen Rahmen der internationalisierten Markt- und Wachstumswirtschaft verharren. Nimmt aber die Konzentration weiter zu, dann wird klar, dass ein Fortschritt, der sich als „mehr Wohlfahrt durch Wachstum“ definiert, notwendiger Weise nicht für Alle gelten kann. Sobald sich die Menschen darüber klar werden, dass unser verschwenderischer Ver­brauch überhaupt nur so lange praktiziert werden kann, wie nicht mehr als ein winziger Bruchteil der Weltbevölkerung Zugang dazu hat, wird unser Gesellschaftssystem seinen Augenblick der Wahrheit erleben.

 

Die Niederlage der „sozialistischen“ Wachstumswirtschaft im Osten


Die derzeitige multidimensionale Krise erhält ihr Gewicht nicht zuletzt aus der Krise des Staatssozialismus. Dieser hatte ja von jeher das Ziel, legal oder durch eine Revolution die Macht im Staate zu erringen und auf diese Weise jenen radikalen gesellschaftlichen Wandel einzuleiten, der uns in die Lage versetzen würde, mittels unseres Wissens von Natur und Gesellschaft unsere Umwelt zu gestalten und den Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung zu steuern. Manifest wurde dieser Ansatz im Sozialismus, insbesondere im Marxismus, als Folge der Aufklärung im Europa des 19. Jahrhunderts. Bestandteil war ein linear - oder dialektisch - in die Zukunft führender Fortschritt. Für die Politik verließ man sich auf vorhandenes, insbesondere naturwissenschaftliches Wissen; irgendwelcher kollektiver, kreativer oder selbstbestätigender Aktivitäten der Einzelnen in der Gesellschaft bedurfte es nicht. Ihre Blütezeit erlebte diese Politik in dem auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Vierteljahrhundert, nachdem nämlich die sozialistische Wachstumswirtschaft sich weit über Osteuropa ausgebreitet hatte und in Westeuropa sozialdemokratische Parteien an die Regierung gekommen waren.

Diese beiden Formen des sozialistischen Etatismus - im Osten der „real existierende Sozialismus“, im Westen die Sozialdemokratie - haben über ein ganzes Jahrhundert die Linke dominiert und die dritte Alternative, nämlich den aus der Autonomiebewegung entstandenen libertären Sozialismus, in den Hintergrund gedrängt. Trotz aller Unterschiede, die zwischen der Sozialdemokratie - die den bürgerlichen Staat erst erobern und dann reformieren wollte - und den Marxisten und Leninisten - die den bürgerlichen Staat abschaffen und durch einen proletarischen ersetzen wollten - aufgerissen waren, stimmten doch beide darin überein, dass sie zum Zwecke eines radikalen gesellschaftlichen Wandels eine Konzen­tration der politischen und ökonomischen Macht in die Wege leiten mussten. Denn auch in Lenins proletarischem, zum Absterben bestimmten „Halbstaat“[29] war so viel Macht in der Hand des Proletariats konzentriert, dass das Ganze leicht - Bakunin sah es kommen[30] - zu einer gewaltigen Machtkonzentration bei einer Elite ehemaliger Arbeiter (der Avantgarde) degenerieren konnte.

In unseren Tagen liegt das sozialistische Etatismus-Modell in Trümmern, ein Opfer der konzentrierten Schläge, die ihm die Neue Rechte, die „zivilgesellschaftliche“ Linke und die neuen sozialen Bewegungen zugefügt haben. Diese Krise zeigt sich an den beiden wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 20 Jahre, nämlich dem Verschwinden des „real existierenden Sozialismus“ im Osten und den gleichzeitigen Niederlagen der Sozialdemokratie im Westen. Die Krise des sozialistischen Etatismus ist nachvollziehbar gerade im Licht der Tatsache, dass es vielen staatssozialistischen Parteien gelang, tatsächlich die Macht im Staat zu erobern. Denn kamen nicht in der Ersten Welt die Sozialdemokraten, in der Zweiten die Kommunisten und in der Dritten Welt diverse sich sozialistisch nennende, nationale Befreiungsbewegungen an die Macht, und versagten nicht sie alle bei der Aufgabe, die Welt so zu verändern, wie sie es zuvor angekündigt hatten? Selbst die von ihnen nach dem Krieg aufgebauten Großstrukturen, die immerhin den Eindruck eines Wandels aufkommen ließen, wurden oder werden beseitigt („real existierender Sozialismus“ bzw. Sozialdemokratie). Gescheitert sind also beide Erscheinungsformen des sozialistischen Etatismus - der realsozialistische im Osten mit seiner marxistischen Theorie und seiner verabsolutierten zentralstaatlichen Praxis ebenso wie der sozialdemokratische im Westen mit seiner keynesianischen Theorie und seiner Praxis des Wohlfahrtsstaats und der Mischwirtschaft.

Im Folgenden werden wir die Gründe für dieses Scheitern erörtern und untersuchen, wie dies mit den beiden Ausprägungen der Wachstumswirtschaft zusammenhängt.

 

Die Gründe für den Zusammenbruch der „sozialistischen“ Wachstumswirtschaft

Der „real existierende Sozialismus“ hatte noch nicht einmal ein Jahrhundert hinter sich, als er unter seinen inneren Widersprüchen und den - zumeist indirekten - Schlägen des internationalen Kapitalismus zerfiel. Doch wenn er auch ökonomisch weitgehend gescheitert ist, so kann er sich doch zweifellos zwei gewichtige gesellschaftliche Errungenschaften zu Buche schreiben - und gerade diese werden jetzt im Zeichen des Liberalismus wieder geschleift.

Da war zunächst die Beseitigung der offenen Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Unsicherheit und Marginalisierung der Menschen. Der Preis hierfür war natürlich eine verbreitete „verdeckte“ Arbeitslosigkeit (Personalüberhang etc.). Doch während die Liberalen darin ein Symptom ökonomischer Ineffizienz erblicken, ist es für einen Sozialisten einfach eine notwendige Folge der Sozialpolitik. Nur widerspricht dieser Versuch, die offene Arbeitslosigkeit zu kaschieren, geradewegs der Logik der Wachstumswirtschaft. Im Zuge der Integration dieser Länder in den Weltmarkt musste sich daher zwangsläufig der Staat von seiner Verpflichtung auf die Vollbeschäftigung verabschieden, wie es die Sozialdemokratie im Westen bereits getan hatte. Dass dies sofort zu verbreiteter Arbeitslosigkeit führen musste, lässt sich sowohl keynesianisch (der freie Markt kann, von zeitlich begrenzten Ausnahmen abgesehen, Vollbeschäftigung nicht herbeiführen[31]) als auch marxistisch (die „Reservearmee“ sorgt dafür, dass die Kapitalakkumulation ohne Lohnsteigerungen vor sich gehen kann[32]) begründen.

 

Die andere Errungenschaft des „real existierenden Sozialismus“ bestand darin, dass - wie verlässliche westliche Untersuchungen belegen[33] - die Einkommensunterschiede dort geringer waren als in vergleichbar entwickelten westlichen Ländern, und dies trotz der wirtschaftlichen Privilegien, die sich die Bürokratie zugeschanzt hatte. So kann es nicht überraschen, dass die Ungleichheit in jenen Ländern unter der Wirkung des Marktmechanismus ständig zugenommen hat. Wie der russische Erziehungsminister Boris Saltykow schreibt,[34] waren die obersten 10 Prozent der gesellschaftlichen Pyramide im Jahre 1990 dreimal, 1992 aber bereits 11 mal so reich wie die untersten 10 Prozent! Für die Zukunft muss man sogar noch schwärzer sehen, denn je weiter die Integration in den Weltmarkt voran schreitet, desto schwächer wird der Staatsapparat und desto weniger Handlungsmöglichkeiten verbleiben ihm, um die marktbedingten Ungleichheiten auszubügeln.

 

Will man den Kollaps des „real existierenden Sozialismus“ richtig interpretieren, so muss man die wirtschaftliche Seite beleuchten. Denn es war gerade der wirtschaftliche Niedergang, der einerseits in der Sowjetunion jene spektakuläre Kehrtwende herbeiführte, die als Gorbatschows Perestroika bekannt geworden ist, und andererseits in den Satellitenstaaten als Katalysator für den Zusammenbruch des dort „real existierenden Sozialismus“ fungierte. Das ökonomische Scheitern zeigte sich in der immer zäheren und schließlich stagnierenden Entwicklung der Produktivkräfte. So ging das Wachstum der Industrieproduktion in der UdSSR von 7% p.a. in den 60er Jahren über 4% in den 70ern schließlich auf 2% in den 80ern zurück.[35] Auch das Wachstum des BSP fiel von 7% p.a. in den 60ern auf ca. 5% in den 70ern und weiter auf 2% in den 80ern.[36] Gleichzeitig wurden Konsumgüter immer knapper, während sich die Probleme des technologischen Rückstands und der qualitativen Mängel verschärften.

 

Für den Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ gibt es drei verschiedene Erklärungen - nämlich die Sicht durch die liberale, die autonomistische oder die etatistisch-sozialistische Brille. Für die Liberalen liegt es an dem Versuch, den Markt durch eine zentrale Planung zu ersetzen. Die Autonomisten suchen die Ursache im Mangel an Demokratie. Die Anhänger des sozialistischen Etatismus schließlich nehmen eine mittlere Position ein, wobei der rechte Flügel (Sozialdemokraten, Perestroika-Anhänger) mehr der liberalen Sicht zuneigen, während der linke Flügel, etwa die Trotzkisten, den Autonomisten näher stehen.

 

Nach Meinung der Liberalen[37] muss man bei der Analyse der Ineffizienz des „real existierenden Sozialismus“ die „Planbarkeit“ des Systems ins Auge fassen, die von der Anzahl der im Zuge des Planungsprozesses zu treffenden Entscheidungen abhängt. Wird hierbei der Markt aus dem Spiel gelassen, dann fallen - heißt es - über die Verwendung zahlloser Produkte völlig willkürliche und ineffiziente Entscheidungen, weil nämlich „die Planvorgaben unspezifisch zu Endzahlen aggregiert sind, auf Gesamt-Tonnen, -Rubel, -Quadratmeter etc. Da diese Vorgabe unmissverständlich bindend ist, produzieren die Unternehmen nicht, was die Kunden wünschen, sondern was sich zur vorgegebenen Menge addiert“.[38] Dies aber führt unausweichlich zu Verschwendung und Ineffizienz.

 

Nach diesem Ansatz wird die Planbarkeit des Systems um so schlechter, je mehr die Zahl der Produkte und Methoden zunimmt (worauf jede Entwicklung hinausläuft). Die Erfolge während der frühen Entwicklungsstadien (d.h. die hohen Wachstumsraten) waren dann nur der extensiven Entwicklung und dem Einsatz von bislang noch nicht erschlossenen Produktionsreserven in der Schwerindustrie geschuldet - also letzen Endes der Tatsache, dass man in der Entwicklung noch so weit zurück lag, beispielsweise in Ländern wie der Vorkriegs-UdSSR oder Bulgarien. Sobald aber die Entwicklung bis zu einem Punkt gediehen war, wo es auf einen intensiven Einsatz der Produktionsmittel, also auf spürbare Produktivitätssteigerungen, sowie auf ein Angebot an technisch hochwertigen Konsumgütern angekommen wäre, kam man um eine Dezentralisierung nicht mehr herum (deren Effizienz die Liberalen aber nur vom Markt erwarten). Damit setzte also der Countdown ein, der zu immer neuen Wirtschaftskrisen und schließlich zum Systemzusammenbruch führte.

 

Die radikale Gegenposition hierzu vertreten die Autonomisten.[39] Sie sehen die Hauptursache für die Ineffizienz des Systems darin, dass weder auf politischem Gebiet noch in der Arbeitswelt Selbstbestimmung oder Demokratie herrschte. Ohne Mitwirkungsrechte der Produzenten aber, d.h. ohne jegliche Arbeitsanreize, waren sie verstört und entfremdet.

 

Dieser Ansatz hat einiges für sich. Kapitalistische - hier ökonomische - Anreize konnte es ja schon rein institutionell nicht geben, und wo die bürokratische Elite es statt dessen mit ideologischen Anreizen versuchte, mussten diese versagen. Der Kapitalismus kann bekanntlich mit zwei ökonomischen Anreizen winken: Positiv mit dem Konsum, negativ mit der Arbeitslosigkeit. Im „real existierenden Sozialismus“ gab es aber beides nicht. Konsum konnte nicht geboten werden, da nur ein geringer Bruchteil der Ressourcen in diesen Sektor gepumpt werden konnte, der noch dazu durch die Bürokratisierung er Wirtschaft völlig ineffizient arbeitete. (Die Ressourcenknappheit rührte daher, dass diese Länder angesichts ihres Entwicklungsrückstandes die horrenden Rüstungslasten des Kalten Krieges anders nicht hätten tragen können.) Das Recht auf Arbeit wiederum - meist sogar in den Verfassungen garantiert - führte nicht nur zu hoher verdeckter Arbeitslosigkeit, sondern förderte auch die verbreitete Einstellung eines passiven „Nur-nicht-zuviel-tun“. Das musste schief gehen, schon im Hinblick auf die Informationsflüsse, ohne die keine effektive Ressourcenallokation funktionieren kann.

 

Für die ideologische Motivation, die die Stelle der ökonomischen einnehmen sollte, stehen vor allem die Namen Stalin und Mao. Doch da eine fundamentale Diskrepanz bestand - zwischen einer Ideologie der Gleichheit und Gerechtigkeit auf der einen Seite, einer Realität der krass ungleichen Verteilung der politischen und wirtschaftlichen Macht auf der anderen - waren diese Bemühungen zum Scheitern verurteilt.

 

Aus dem Versagen des „real existierenden Sozialismus“ vor der Aufgabe, eine effiziente sozialistische Wachstumswirtschaft aufzubauen, erwuchs der herrschenden Elite das Dilemma: Wie sollte man dezentralisieren - sozialistisch oder über den Markt? Wählte man die erste Alternative, dann musste man eine authentisch sozialistische Wirtschaftsordnung errichten, d.h. nicht nur neue Strukturen für eine sozialistische Selbstverwaltung schaffen, sondern sich auch für eine neue, solidarische und kooperative internationale Arbeitsteilung einsetzen. Die zweite Alternative hingegen würde bedeuten, eine „sozialistische“ Marktwirtschaft in die internationalisierte Marktwirtschaft - mit all ihrem Konkurrenz-Individualismus - zu integrieren. Bei der ersten Alternative hätten die herrschenden Eliten sich selbst und ihre hierarchischen Strukturen abschaffen müssen (und ihre hoch verschuldeten Länder hätten trotzdem keinen Zugang zu westlichem Kapital gehabt), wohingegen die zweite durchaus mit der - allenfalls leicht modifizierten - Weiterexistenz dieser Strukturen und selbst der Eliten in Person vereinbar war.

 

Die Kriterien, nach denen die Entscheidung über den zu wählenden Weg getroffen wurden, waren demnach nicht wirtschaftlich (wie im Westen behauptet), sondern rein politisch. Einen Hinweis darauf geben die Äußerungen, mit denen die Vorkämpfer der Perestroika ihren Kurs zu rechtfertigen suchten. Alexander Jakowlew etwa verkündete,[40] an die Stelle der marxistischen Klassentheorie würde jetzt das Prinzip der alle Klasseninteressen transzendierenden universellen Menschenrechte treten. Und natürlich sollte als oberster dieser „universellen“ Werte die freie Konkurrenz in einer gemischten Wirtschaftsordnung gelten!

 

Nachdem die Reformeliten einmal den Weg zur „sozialistischen“ Marktwirtschaft eingeschlagen hatten, musste die dadurch freigesetzte Dyamik nicht nur die „sozialistische“ Wachstumswirtschaft, sondern den gesamten „real existierenden Sozialismus“ erfassen und transformieren. Vor allem in der Sowjetunion war (im Gegensatz zu China) die Elite gezwungen, die Reformen der Perestroika unter Bedingungen der Offenheit (Glasnost) durchzuziehen, um so das starke Establishment der militärisch-industriellen Hardliner auszumanövrieren, die den Status quo möglichst nicht verändert sehen wollten. Diese Offenheit wiederum gab aber den vom Westen unterstützten zentrifugalen Kräften Auftrieb und leistete somit der Fragmentierung der UdSSR und dem Sturz des „real existierenden Sozialismus“ Vorschub- ganz wie es der Westen zu Gunsten der von ihm favorisierten kapitalistischen Wachstumswirtschaft gewünscht hatte.

 

Von der „sozialistischen“ Wachstumswirtschaft zur Markt­wirtschaft


 

Auf der ganzen Erde - von Russland bis China, von Polen bis Vietnam - sind die „sozialistischen“ Wachstumswirtschaften zusammengebrochen, wurden oder werden sie durch Marktwirtschaften ersetzt, befindet sich die planmäßige Steuerung der Ressourcenallokation auf dem Rückzug. Der Unterschied zwischen Osteuropa und Ostasien liegt darin, dass in Europa der Kapitalismus eingeführt wurde, während man in Asien auf eine Art „sozialistischer“ Marktwirtschaft setzt und große Teile der Produktion noch unter staatlicher Aufsicht verbleiben.

 

Die kapitalistischen Marktwirtschaften in Osteuropa

 

In Osteuropa waren - mit Ausnahme Russlands, Jugoslawiens und Albaniens - die politischen Strukturen durch die Rote Armee „importiert“ worden. Kaum waren sie zusammengebrochen, als die neuen Regierungen, angeleitet vom IWF, der Weltbank etc., sich auch schon daran machten, nicht nur das Planungssystem, sondern das Staatseigentum an den Produktionsmitteln überhaupt aufzuheben und durch eine Marktwirtschaft unter kapitalistischen Besitz- und Kontrollverhältnissen zu ersetzen.

An die Stelle der früheren Kontrolle durch Partei und Bürokratie setzen die neuen Eliten ein neues System, in dem Macht und Privilegien auf dem Recht des Eigentums beruhen. Dabei sind in beiden Eliten die handelnden Personen häufig dieselben, etwa wenn zahlreiche Mitglieder der Nomenklatura die gerade privatisierten Betriebe übernehmen, wie es bereits Trotzki prophezeit hatte („Aus Bürokraten können Kapitalisten werden“[41]). Dies sollte niemanden überraschen, sind doch außer den ausländischen Kapitalisten die ex-Bürokraten und die Schwarzhändler die Einzigen, die über genügend Geld und Verbindungen verfügen, um die zum Kauf angebotenen Betriebe erwerben zu können. Auch sorgen die Bedingungen, an welche die jenen Ländern vom internationalen Kapital gewährten Anleihen und „Finanzhilfen“ geknüpft sind, dafür, dass die kapitalistische Marktwirtschaft sich etablieren kann und alle Versuche, eine Selbstverwaltungsstruktur der Produktion aufzubauen, chancenlos bleiben.

Das künftige Schicksal der in Osteuropa entstehenden Marktwirtschaften wird davon abhängen, ob es gelingt, an Stelle der erledigten „sozialistischen“ Wachstumswirtschaft eine erfolgreiche kapitalistische Wachstumswirtschaft aufzubauen - also von zwei Faktoren: (a) Wird der noch ausstehende massive Zustrom westlichen Kapitals tatsächlich einsetzen? (b) Kann der gegenseitige Handel zwischen den Ländern des ehemaligen Ostblocks, der derzeit im Zuge der Integration dieser Länder in den Weltmarkt stark zurückgegangen ist, ganz oder teilweise wiederbelebt werden? Unter diesen beiden Bedingungen könnten die negativen Auswirkungen der Vermarktwirtschaftlichung (drastischer Anstieg der Arbeitslosigkeit, vermehrte Ungleichheit, Abbau von Sozialleistungen etc.) so lange erträglich bleiben, als sie nicht massenhaft auftreten.

Die Chancen dafür sind nicht gut, am besten noch in einigen mitteleuropäischen Ländern. So hat der Kapitalzustrom bislang auf sich warten lassen, und es ist ungewiss, ob sich das jemals ändert. Denn in dem erbitterten Wettlauf der Länder des erweiterten „Südens“ um Auslandsinvestitionen weist das riesige China beträchtliche Vorteile auf (niedrige Löhne, politische „Stabilität“ etc.) - eine Hypothese, die von den bisherigen Ereignissen gestützt wird. Die gesamten Auslandsinvestitionen in Osteuropa sind minimal und entbehren jeder makroökonomischen Wirkung. China hingegen zog allein im Jahr 1992 mehr Direktinvestitionen an als der gesamte frühere Ostblock im Zeitraum 1989-1993.[42] Und selbst die winzige Kapitalmenge, die in jene Länder floss, diente hauptsächlich dazu, die früheren Staatsbetriebe aufzukaufen, die „für’n Appel und ’n Ei“ zu haben waren. So ist etwa in Polen und Ungarn der weit überwiegende Teil der Privatisierungen (bis Ende 1993 waren es ca. 55.000) ausländischen Investoren zu Gute gekommen.

 

Auch auf dem Gebiet des Handels sind die Chancen, dass dieser jemals wieder den Umfang der früheren blockinternen Beziehungen erreichen könnte, praktisch gleich Null - insbesondere angesichts des Sachs-Plans[43] und seines Kernziels, das Comecon aufzubrechen. Zur Zerstörung der alten Comecon-Verbindungen trug auch bei, dass die G7-Staaten sich für einen am Handel mit Westeuropa ausgerichteten Umbau der Wirtschaft ausgesprochen haben,[44] mit der direkten Folge, dass sich das bisherige Defizit der EU in der Handelsbilanz mit dieser Region in einen Überschuss verwandelte.[45]

 

Es lässt sich daher mit einiger Sicherheit voraussagen, dass Länder wie Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei, die bereits einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben, sich noch im relativen Zentralbereich der internationalisierten Marktwirtschaft wiederfinden werden, während der Rest an der Peripherie landen wird. Anders gesagt, die von den großen kapitalistischen Ländern erzwungene neoliberale Politik wird im Verein mit der Tatsache, dass die Voraussetzungen für eine starke, technisch moderne Binnenindustrie nicht gegeben sind, mit tödlicher Sicherheit zu einer „Lateinamerikanisierung“ Osteuropas führen. Wen verwundert es da, wenn eine Untersuchung[46] zu dem Schluss kommt, der Lebensstandard im größten Teil der Region würde selbst im Jahr 2010 noch hinter dem Stand von 1988 (also bevor dort die Marktwirtschaft Einzug gehalten hatte) zurück bleiben?

 

In Russland selbst vollzieht sich mit der derzeitigen vollständigen Integration in den Weltmarkt der Abschluss eines Prozesses, der bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt hatte und durch die Machtergreifung der Bolschewiki nur abrupt unterbrochen worden war. Schon vor gut 100 Jahren beklagte sich der zaristische Reformer Sergej Witte darüber, dass Russland nur Rohstoffe exportierte und Fertigwaren importierte, also an der Peripherie der kapitalistischen Welt lag. In diese Position kehrt das Land derzeit zurück, mit allen Folgen für seine Produktionsstruktur und seinen Handel.

 

Auf dem Produktionssektor wäre eine (vom Staat geförderte) Reforminitiative der Manager der Staatsbetriebe oder der in- und ausländischen Kapitalgeber notwendig gewesen, um die produzierende Industrie gegenüber dem Westen konkurrenzfähig zu machen. Dieser Weg wurde aber von Anfang an durch die westlichen Finanziers blockiert; die internationalen Organisationen versahen ausdrücklich jede ihrer Finanzhilfen mit der Auflage, marktwirtschaftliche Reformen durchzuführen.[47] Gleichzeitig drängten sie auf ein drastisches Zurückfahren des Budgetdefizits sowie auf die - nach dem dramatischen Verfall des Rubels für den Westen besonders lukrative - Privatisierung der Staatsbetriebe. Nur zeigte der Westen wenig Neigung, in die produzierende Industrie Russlands zu investieren, sondern konzentrierte sich - wie stets in den peripheren Regionen - auf die reichen und daher hoch profitablen Naturschätze Erdöl, Erdgas, Holz und Mineralien.[48] Dies führte dann zu einem stetigen Rückgang der Industrieproduktion.

 

Auf dem Handelssektor brachen nach der Integration Russlands in den Weltmarkt die traditionellen Beziehungen zu den früheren Teilrepubliken der UdSSR und zu Osteuropa zusammen. Wie der renommierte Oxford-Sowjetologe M.Kaser schreibt, nahm im letzten Planjahr (1988) der Handel mit den anderen Unionsrepubliken vier Fünftel des gesamten Handelsvolumens oder 27% des russischen BSP ein.[49] Und selbst in einem OECD-Bericht wird eingeräumt, dass die Fragmentierung des Comecon verheerende Folgen für die dortige Industrieproduktion nach sich zog: „Einigen Berechnungen zu Folge dürfte allein dieser Volumeneffekt den größten Teil des Produktionsrückgangs in Ungarn und der vormaligen CSFR sowie etwa ein Drittel des Rückgangs in Polen erklären“.[50] Inzwischen ist der Handel mit den anderen Republiken vollends zusammengebrochen und Russland importiert Fertigprodukte (vor allem Luxuswaren für die neue Eliten) und exportiert Rohstoffe, ganz wie vor 100 Jahren.

 

Um diese neue Stellung Russlands im System der internationalen Arbeitsteilung zu „stabilisieren“, zwingt der Westen mit Hilfe diverser Organisationen dem Land eine immer schärfere Austerity-Politik auf. So wurde ja auch die von Sachs empfohlene Schocktherapie für ihre drie „-ierungen“ berühmt: Liberalisierung, Privatisierung, Stabilisierung. Das Ergebnis war eine katastrophale Wirtschaftsdepression; das Staatliche Russische Komitee für Statistik (die einzige zuverlässige Quelle für Wirtschaftsdaten) spricht von einer Halbierung der Industrieproduktion im Zeitraum 1991-93,[51] was noch schlimmer war als das, was die USA während der großen Krise nach dem Crash von 1929 erlebten! Zwangsläufig waren die Humankosten ungeheuerlich. 1992 lebten nach Angaben der Weltbank 37% der Erwachsenen und ca. 47% der unter 15-Jährigen unterhalb der Armutsgrenze.[52] Hierzu passt, dass die Sterberate - die weltweit zwischen 1970 und 1993 um ein Viertel gefallen war - in Russland im gleichen Zeitraum um 44% anstieg, und zwar überwiegend nach 1989.[53] Aus diesem Grund reden inzwischen auch diejenigen aus der neuen Elite, die eine heimische Industriebasis aufbauen möchten, von der Lateinamerikanisierung Russlands. So macht etwa Arkadij Wolsky, Präsident des Verbandes der Russischen Industrie, geltend, da nur 16% der Betriebe international konkurrenzfähig seien, könne das Land unmöglich eine völlig offene Wirtschaftspolitik betreiben.[54] In die selbe Richtung geht die Äußerung von Boris Kagarlitzky, eines hohen Funktionärs der Partei der Arbeit, „die Wirtschaftspolitik der Regierung [habe] nicht das Ziel, die Krise zu meistern, sondern sie für die neue Elite zu instrumentalisieren, die von der Lateinamerikanisierung des Landes zu profitieren hofft“.[55]

 

Auf dem Feld der Politik dürfte das wahrscheinlichste Szenario eine lang andauernde Zeit der Instabilität sein, aus der langfristig radikale, vermutlich nationalistische und faschistische Strömungen entstehen können. Schon die derzeitige Wiedergeburt der Kommunistischen Partei unter Sjuganow repräsentiert eher einen neuen Nationalismus[56] und den Wunsch, „die ‚gute’ - paternalistische - Nomenklatura“ zu unterstützen,[57] als auch nur den Versuch eines Widerstands gegen die Marktwirtschaft, die auch von den reformierten „Kommunisten“ als gegeben hingenommen wird.

 

Gleichzeitig hat der Siegeszug des Konsumdenkens und die objektive Unfähigkeit der Regierung, die Konsumwünsche breiter Bevölkerungsschichten zu befriedigen, Kriminalität, Alkoholismus und Drogenmissbrauch explodieren lassen. Dennoch neigen die neuen Eliten Russlands und der anderen osteuropäischen Länder einer politischen Liberalisierung, d.h. einer „Demokratisierung“, zu, wobei sie rege Unterstützung aus dem Westen genießen. Denn der hat ja schon seit den frühen 80er Jahren nicht nur in Osteuropa, sondern an der gesamten Peripherie und Semiperipherie des Kapitalismus, zu der die Ostländer jetzt gehören, seine Demokratisierungspropaganda betrieben. Als Ronald Reagan 1981 vor dem Parlaments in London ankündigte, die USA würden jetzt ihr Prestige und ihre Mittel in ein Programm zur „Stärkung der Demokratie auf der ganzen Welt“ stecken,[58] war das kein Zufall. Denn die autoritären Regimes in den Ländern der Peripherie hatten nur eine Überlebenschance, solange die Wachstumsideologie, jenes „Alibi des Wachstums“, noch einigermaßen glaubwürdig erschien. Zu Beginn der 80er Jahre war aber schon klar, dass die so genannte Entwicklung in den Ländern der Peripherie auf einem völlig instabilen Fundament ruhte (meist Verschuldung im Ausland) und nie eine Wachstumswirtschaft nach westlichem Muster herbei führen konnte. In diesem Augenblick wurde aus der Demokratie (in W. Cumings' passender Formulierung) „ein Weg, die Verantwortung zu teilen“.[59] In Wirklichkeit ist nämlich die „demokratische Teilhabe“, von der man jetzt an der Peripherie so schwärmt, nichts weiter als Teilhabe am Elend. Und wenn an die Stelle der früheren autoritären Regimes nach und nach liberale Oligarchien treten, so können auch diese schon von Natur aus nicht eine wirkliche Teilhabe der Bürger an den Entscheidungen sicher stellen, sondern nur für kollektive Apathie sorgen. Hierfür gibt es freilich viel raffiniertere Instrumente als die eines Stalin oder Pinochet, die die Illusion einer Bürgerbeteiligung gar nicht erst aufkommen ließen. Der Durchschnittsbürger wird alle vier oder fünf Jahre gebeten, seine Oberherren zu wählen; allenfalls schließt er sich mal einer Initiative an. In die Elite selbst steigt er nur selten auf, sondern „bleibt weitgehend passiv, wie es auch von ihm erwartet wird, ruht doch darauf das Wohlbefinden des ganzen Systems“.[60]

Hier liegt aber das Kernproblem einer Übertragung der liberalen Oligarchie auf die Länder der Peripherie verborgen. Denn während die Oligarchie im Westen in der „40-Prozent-Gesellschaft“ eine relativ sichere Grundlage besitzt, besteht an der Peripherie in absehbarer Zeit keine Aussicht, ein vergleichbar festes Fundament für diese Art institutionalisierter Apathie zu schaffen.

Die „sozialistischen“ Marktwirtschaften im Fernen Osten

 

Auch im Fernen Osten (China, Vietnam, Laos) folgt auf die „sozialistische“ Wachstumswirtschaft eine Marktwirtschaft. Doch dort ist es nicht die kapitalistische Form wie in Osteuropa, sondern wiederum eine „sozialistische“, insofern nämlich als versucht wird, die Industrieproduktion möglichst weit gehend unter staatlichem Einfluss zu halten. Doch auch in diesen Ländern mündet die durch die marktwirtschaftlichen Reformen in Gang gesetzte Dynamik zwangsläufig in eine kapitalistische Marktwirtschaft.

 

In China begann die Umstellung 1979, aber anders als in Osteuropa wahrte der Staat hier seine bestimmende Rolle nicht nur auf den Gebieten des Gesundheits-, Bildungs- und Transportwesens, auf dem Telekommunikationssektor, im Bankwesen und im Außenhandel, sondern auch in der Industrie. So stammen immer noch mehr als 85% der chinesischen Industrieproduktion aus vergesellschafteten Betrieben.[61] Das Ziel, das der chinesischen Bürokratie vorschwebte, war klar: So viel Marktfreiheit wie möglich auf mikro-ökonomischer Ebene, doch volle Kontrolle der makroökonomischen Ressourcenallokation mittels Planung und Staatseigentum. Dies war natürlich ein Widerspruch in sich, und so griff die Dynamik der mikroökonomischen Marktwirtschaft mehr und mehr auf die übergeordnete Ressourcenallokation über und drängte die Planung in den Hintergrund: „In der chinesischen Industrie sind funktionierende Märkte entstanden, die auch in der Ressourcenallokation an Bedeutung gewinnen ... Untrennbar damit verbunden war ein Rückgang der Planungsaktivitäten in diesem Bereich“.[62]

 

Nimmt man die üblichen „Erfolgskriterien“ der Wachstumswirtschaft zum Maßstab, dann haben diese Reformen beachtliche Wirkungen gezeitigt. So hat China, wie die Weltbank kürzlich lobend berichtete, im Zeitraum 1977-87, also nach Einführung der Marktwirtschaft, seine Pro-Kopf-Produktion verdoppelt; seine durchschnittliche Wachstumsrate seit 1979 betrug 8,8%.[63] Es fragt sich allerdings, ob selbst diese „erfolgreiche“ Entwicklung mit den derzeitigen Institutionen auf Dauer durchgehalten werden kann. Im staatlichen Sektor war nämlich dieses Wachstum nicht so sehr „intensiv“, also durch Produktivitätsfortschritte generiert, als vielmehr „extensiv“, also der Aktivierung der riesigen Arbeitskraftreserven geschuldet.[64] Und in dem laufend zunehmenden Privatsektor war die mit ausländischen Investitionen geförderte Industrie - vor allem in Südchina - der eigentliche Wachstumsmotor. Es bedarf keines großen Scharfsinns, um vorherzusagen, dass die Kostenvorteile der Privatunternehmen (die z.B. keine Sozialleistungen zahlen müssen) diesen den Sieg über die Kollektivbetriebe bescheren werden. Man erwartet auch, dass sich die in ausländischem Besitz befindlichen Unternehmen gegen die heimischen Betriebe durchsetzen werden.[65] So haben wir also zur Zeit in China eine duale Wirtschaftsordnung, verbunden mit einer dualen Machtstruktur, und während in der Wirtschaft der Markt auf dem Vormarsch ist, kann die Parteibürokratie ihre Machtpositionen nur noch mittels Repression verteidigen.

 

Das Beispiel China demonstriert auf perfekte Weise, warum eine „sozialistische“ Marktwirtschaft nicht nur abzulehnen, sondern überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ihre Dynamik hat nicht nur erbarmungslos mit den Resten des „Sozialismus“ aufgeräumt, sondern zeigt schon jetzt alle sattsam bekannten Züge einer Marktwirtschaft, beispielsweise Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit in weiten Bereichen, und dies obwohl gesellschaftliches Eigentum immer noch die Regel ist. Diese krassen Disparitäten, die vergleichbar sind mit denen zwischen Deutschland und den ärmsten Ländern Osteuropas,[66] rühren hauptsächlich von der Konzentration der Auslandsinvestitionen in den profitabelsten Bereichen her. In der reichsten Region, der Sonderwirtschaftszone Zhuhai, ist das pro-Kopf-BIP 86 mal höher als im ärmsten Kreis, Qinglong (Guizhou).[67]

 

Die Arbeitslosigkeit in der Landbevölkerung wurde schon Mitte der 90er Jahre auf 200 Mio. geschätzt, und bis 2000 wurde bereits damals eine Steigerung auf 300 Mio. erwartet.[68] Eine Springflut von ca. 140 Mio. Menschen, fast ein Drittel der Landarbeiterschaft, hat sich als Wanderarbeiter über den boomenden östlichen Küstenstreifen ergossen. Über das Elend dieser Menschen gibt es plastische Berichte:

 

Die wenigen „Glücklichen“, die überhaupt einen Job ergattern, werden leichte Beute skrupelloser Fabrikbesitzer, denen Profit über Sicherheit geht und die sie endlose Stunden in schmuddeligen Sweatshops oder Feuerwerksfabriken schuften lassen. Betriebsunfälle fordern in China durchschnittlich 500 Tote pro Jahr - ein trauriger Rekord, der bereits zur Verurteilung des Landes durch die ILO und den IGB geführt hat.[69]

 

In dem Konzessionswettlauf der einzelnen Provinzen um die Ansiedlung ausländischer Unternehmen sind Exportzonen entstanden, in denen - ganz wie in anderen Teilen Asiens - die Wunderkraft des Kapitals „ein Paradies gewissenloser Ausbeutung von Kindern, zwangsweiser Überstunden, von beamteten Streikbrechern und Schlimmerem“ geschaffen hat.[70] So ist es kein Wunder, dass die Sterberaten ansteigen, gravierende Umweltprobleme entstehen und die immer stärker auseinander klaffenden Einkommen zu sozialer Unruhe führen.[71]

 

In China wie in Vietnam, schreibt Gabriel Kolko im Nachwort zu seiner wegweisenden Studie über den Vietnamkrieg, „versuchen sich die kommunistischen Führer an einer Kombination kapitalistischer Institutionen und leninistisch begründeter Herrschaftseliten“.[72] Hier wie dort hätten die marktorientierten Reformen neue Schichten von Arm und Reich geschaffen und die Kluft zwischen Stadt und Land noch weiter aufgerissen. Für ihn ist Vietnam auf dem besten Wege, sich in eine Klassengesellschaft im westlichen, ökonomischen Sinn zu verwandeln.

 

Der Zusammenbruch der Sozialdemokratie im Westen


 

Der Übergang von der Sozialdemokratie zum Sozialliberalismus

 

Zusammengebrochen ist aber nicht nur der „real existierende Sozialismus“, sondern ebenso unverkennbar auch die sozialdemokratische Version der kapitalistischen Wachstumswirtschaft, auch wenn absurder Weise immer noch einige Sozialdemokraten glauben, gerade sie wären die legitimen Nachfolger des „real existierenden Sozialismus“.

Ein wesentliches Merkmal des neoliberalen Konsenses liegt darin, dass der Etatismus nicht nur ganz allgemein, sondern vor allem in seiner „sozialistischen“ Ausprägung auf dem Rückzug ist, d.h. dass die Sozialdemokratie ihre bisherigen Inhalte weitgehend aufgegeben hat. Neoliberaler Konsens, das heißt Verschwinden des staatlichen Interventionismus der Sozialdemokratie, der die Zeit des sozialdemokratischen Nachkriegskonsenses bis in die 70er Jahre beherrscht hatte. Wir haben in Kapitel 1 gesehen, dass Ziel dieses Interventionismus der Wohlfahrtsstaat mit Vollbeschäftigung und gerechter Einkommensverteilung gewesen war. Letzterem dienten nicht nur das wohlfahrtsstaatliche „soziale Lohnsystem“, sondern auch eine progressiv ansteigende Einkommensteuer, aus deren Ertrag (neben der Staatsverschuldung) sich der Wohlfahrtsstaat finanzieren konnte.

Diese Politik war insofern erfolgreich, als sich der Lebensstandard der ärmeren Schichten beträchtlich hob und die Illusion einer „Gesellschaft der einen Nation“ entstehen konnte. Die Sozialdemokratie konnte also auf dem ideologischen Feld für sich in Anspruch nehmen, eine Gesellschaft geschaffen zu haben, die ohne ernsthafte Verluste an individueller Freiheit ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit garantierte - sozusagen einen „real existierenden Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ als Gegengewicht zum „real existierenden Sozialismus“.

Leider ist dieser sozial akzeptable Kapitalismus entweder bereits tot, wie in Großbritannien, oder liegt im Sterben, wie in Deutschland oder Skandinavien - auch wenn die mit Verspätung zur Sozialdemokratie bekehrten marxistischen Intellektuellen noch an das Gegenteil glauben. Nachdem der Rückzug des Staates aus der Vollbeschäftigungspolitik, wie überhaupt das Schrumpfen des Wohlfahrtsstaats, zu Armut und Arbeitslosigkeit geführt hat, ist jetzt die 40-Prozent-Gesellschaft an die Stelle der Gesellschaft der „einen Nation“ getreten. Die heutigen sozialdemokratischen Parteien gehen nicht mehr gegen die sich ausbreitende neoliberale Marktwirtschaft an, sondern haben ihre eigene Ideologie der Realität angepasst. Sie haben so gut wie nichts mehr mit der traditionellen Sozialdemokratie der Jahre 1950-75 zu tun und täten besser daran, sich als „sozialliberal“ zu bezeichnen. Dieser Verfall der Sozialdemokratie hat seit Mitte der 80er Jahre ein solches Ausmaß angenommen, dass ein altes Mitglied der „Neuen Linken“ sich verzweifelt fragt:

 

Ganz früher, als die Zweite Internationale gegründet wurde, strebte [die Sozialdemokratie] den Sturz des Kapitalismus an. Dann probierte sie es mit Teilreformen, in denen sie Schritte auf dem Weg zum Sozialismus sah. Schließlich begnügte sie sich mit allgemeiner Wohlfahrt und Vollbeschäftigung unter dem Kapitalismus. Wenn sie aber nun das eine noch weiter zurücknimmt und das andere gänzlich aufgibt, was für eine Bewegung soll dann aus ihr werden?[73]

 

Wir haben schon in Kapitel 1 gesehen, wie es zu diesem Verfall der Sozialdemokratie gekommen ist. Es waren die fundamentalen Strukturveränderungen der Marktwirtschaft, die einen Etatismus, wie ihn die Sozialdemokratie benötigte, so gut wie unmöglich machten. Daher haben auch diejenigen Sozialdemokraten Unrecht, die da meinen, die Sozialliberalen hätten sie nur aus konjunkturellen Gründen, also temporär, verdrängt. Ob Budgetdefizite und Sozialausgaben laufend zurückgefahren, ob der Wohlfahrtsstaat und die Vollbeschäftigungspolitik aufgegeben werden sollen oder nicht, steht überhaupt nicht mehr zur Debatte, sondern diese Politik wird den Sozialliberalen aufgezwungen; sie folgt notwendig aus dem bereits erreichten Grad an Internationalisierung der Marktwirtschaft, insbesondere aus Folgendem:

  • Da die Liberalisierung der Warenmärkte davon ausgeht, dass das Wachstum wesentlich von einer laufend verbesserten Konkurrenzfähigkeit abhängt, ist den Staaten praktisch jede Möglichkeit genommen, in Bezug auf Wohlfahrt, Arbeitslosigkeit etc. eine nennenswert andere Politik zu betreiben als ihre Konkurrenten. In einer kürzlich erschienenen Studie heißt es: „In den transnationalen Märkten unterliegen auch die Arbeitsbedingungen und -standards wieder der Konkurrenz. So trägt der Handel dazu bei, den keynesianischen Wohlfahrtsstaat und die damit untrennbar verbundenen hohen Arbeitsplatz-Standards zu untergraben“.[74]

  • Da Kapitalflucht im Rahmen des liberalisierten Kapitalmarktes jederzeit in großem Umfang möglich ist, hat der Wohlfahrtsstaat seine Autonomie praktisch eingebüßt.[75]

 

So haben also die durch die gegenwärtige Internationalisierung der Marktwirtschaft aufgerichteten strukturellen Randbedingungen, in Verbindung mit der Rücksichtnahme auf die veränderte Klassenstruktur der Wähler (siehe Kapitel 1), es mit sich gebracht, dass Sozialliberale und Neoliberale praktisch ununterscheidbar geworden sind. Überall das gleiche Bild, von Australien, wo die Labour Party die Privatisierungen aktiv voran getrieben und die staatliche Schuldenaufnahme drastisch verringert hat, bis Schweden, wo sich die Sozialdemokraten bereits vor ihrer Wahlniederlage von 1991 daran gemacht hatten, den Wohlfahrtsstaat und die Arbeitsmarktsicherungen abzubauen, um die die Sozialdemokratie der ganzen Welt sie zuvor beneidet hatte. Auch in Norwegen „wurde das bisherige Hauptziel der Arbeiterpartei - die Vollbeschäftigung - über Bord geworfen“.[76]

 

Den Fall Schweden wollen wir uns etwas genauer anschauen, weil sich dort die Gründe für den Zusammenbruch der Sozialdemokratie gut demonstrieren lassen. Im Jahr 1990 wurde die Staatsbank ihrer Verpflichtung auf die Vollbeschäftigung enthoben; der Kurs der Krone wurde entsprechend den Schwankungen des ECU freigegeben. Da die führenden Kreise des Landes nunmehr in der Konkurrenzfähigkeit die wichtigste Triebfeder wirtschaftlichen Wachstums sahen, trat die Bekämpfung der Inflation als oberstes Wirtschaftsziel an die Stelle der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In nur 3 Jahren stieg die Arbeitslosigkeit auf mehr als das Fünffache (von 1,5% 1990 auf 8,3% 1993). Die Instrumente zur Bewahrung der Vollbeschäftigung waren im übrigen schon lange, bevor diese als Wirtschaftsziel aufgegeben wurde, demontiert worden. Bereits Mitte der 80er Jahre hatten sich die Institutionen verändert; die Staatsbank stellte ihre Aufsicht über die anderen Banken ein und initiierte so eine den Entwicklungen in der EG vergleichbare Deregulierung des Kapitalmarkts. So blieb die Verantwortung für die Inflationsbekämpfung allein bei den Gewerkschaften hängen. Die aber sahen sich außer Stande, ihre Mitglieder zur Zurückhaltung bei den Lohnforderungen zu motivieren, zumal sich die Inflation im Gefolge der unkontrolliert ausgeweiteten Bankkredite wieder beschleunigte.

 

Wie eine Untersuchung der schwedischen Verhältnisse betont,[77] war es vor allem die Deregulierung, die das schwedische Wirtschaftsmodell zerstörte. Denn als das dortige etatistische Modell in den 30er Jahren entstand, sah das System der Kapitalkontrollen sowohl im Inland (Kredite der Banken untereinander etc.) als auch grenzüberschreitend völlig anders aus. Damals standen die Banken unter scharfer Aufsicht, der Devisenverkehr war streng reglementiert und die Regierung versuchte, die Binnennachfrage hoch und - in Abstimmung mit der Staatsbank - die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten. Dies erlaubte auch den mächtigen Gewerkschaften, „vernünftige“ - d.h. inflationsneutrale - Lohnsteigerungen durchzusetzen. Heute hingegen ist bei den deregulierten Kapitalmärkten jeder Versuch, Wachstum über defizitfinanzierte öffentliche Ausgaben zu erreichen, zum Scheitern verurteilt, löst er doch spekulative Kapitalbewegungen und Währungsturbulenzen aus. So fiel das sozialdemokratische Modell Schweden in Stücke - spätestens 1992, als nach einer schweren Krise der Krone der neoliberale Konsens in eine feste Form gegossen wurde und die Sozialdemokratie mit den Konservativen Schritte zum spürbaren Abbau des Wohlfahrtsstaats vereinbarte.

 

Die Argumente, auf die der moderne Sozialliberalismus sich stützt, besagen im wesentlichen, dass eine „redefinierte“ Sozialdemokratie und die internationalisierte Marktwirtschaft nicht notwendiger Weise unvereinbar sind. Manche[78] schreiben dem Nationalstaat eine unverändert wichtige Rolle zu (siehe Kapitel 1), nicht nur bei der Kontrolle der jeweils in ihren Ländern beheimateten Multis, sondern auch im gemeinsamen Handeln der Triade gegenüber den internationalisierten Märkten. Andere hingegen[79] schütten das Kind mit dem Bade (der angeblich überholten marxistischen Klassenanalyse) aus und verkünden die Lehre von der allgemeinen Gleichheit ohne vertikale Strukturen - für sie ist die Regierung nur eine gesellschaftliche organisierte Gruppe unter anderen und verfolgt auch nur ihre Partialinteressen! Wieder andere nehmen die in den 80er Jahren entstandenen neoliberalen Institutionen, so wie sie sind (also das massive Vordringen von Markt und Konkurrenz auf Kosten der sozialen Kontrollen), hin und unterscheiden sich somit nur noch unwesentlich von den neoliberalen Puristen. So verneinen sie die Notwendigkeit einer Sozialisierung der Produktionsmittel, obgleich diese doch das historische Fundament des Sozialismus gebildet hatte. Die britische Labour Party strich 1995 das altehrwürdige Bekenntnis zur Sozialisierung aus ihrem Statut. Ein sozialdemokratischer Soziologieprofessor an der London School of Economics behauptet: „Nicht auf die Eigentumsform kommt es an, sondern auf die Kontrollen, die der Staat ausüben kann (...) um sowohl Servicequalität als auch niedrige Preise zu garantieren“.[80] Hier wird ganz offensichtlich versucht, sich um die Erkenntnis zu drücken, dass keine noch so ausgeklügelte Staatskontrolle möglich ist, die sich mit den Prinzipien der Marktwirtschaft und der Konkurrenzdynamik in Konflikt befindet.

 

So könnte etwa ein privatisiertes Versorgungsunternehmen auf keine Weise daran gehindert werden, diejenigen, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können, von den Lieferungen abzuschneiden. Nehmen wir nur die privaten Wasserwerke in Großbritannien: Seitdem sie privatisiert wurden und die Wasserpreise drastisch gestiegen sind, ist die Anzahl der Versorgungsunterbrechungen dramatisch angestiegen - von 1991 bis 1993 allein um 170%. In der Folge breiteten sich Krankheiten aus, wie man sie so epidemisch schon seit 100 Jahren nicht mehr erlebt hatte. 1990 gab es 2.756 Dysenteriefälle, 1991 waren es 9.935 und 1992 bereits 16.960 Fälle![81] Außerdem konnte man, solange die Versorgungsunternehmen nur der gesellschaftlichen Kontrolle unterlagen, wenigstens sicher sein, dass sie ihre Überschüsse in moderne Techniken stecken würden; bei einem Privatunternehmen hingegen landet selbstverständlich ein beträchtlicher Teil der Gewinne in den Taschen der Aktionäre.

 

Ebenso wenig kann staatlicher Zwang die Versorgungsunternehmen dazu bringen, ihre Preise so anzusetzen, dass sie auch noch für die Unterklasse erschwinglich sind, also für die vielen Arbeitslosen, Niedrigverdiener und Nicht-Erwerbstätigen, die das System selbst hervorbringt. Wie das Beispiel Großbritannien zeigt, ist der Staat infolge der Marktlogik nicht einmal mehr in der Lage, die ihm von den Sozialliberalen gesetzten Ziele - vor allem niedrige Preise - zu erreichen.[82] Vergleicht man etwa die Telefongebühren in 14 europäischen Ländern, so findet man, dass die Privatisierung der British Telecom den Einzelkunden keine Vorteile gebracht hat. Zu der Zeit, da Großbritannien das einzige EU-Land ohne staatliches Telefonmonopol war, lag es auch mit den Preisen für Ortsgespräche an der Spitze. Die Gewinnmarge betrug allerdings auch 74%![83]

 

Die Sozialliberalen sprechen dem Wohlfahrtsstaat auch seinen universellen Charakter ab. Für sie ist diese Universalität - also der Grundsatz, jedem Bürger unabhängig von Einkommen und Bedürftigkeit die sozialen Dienstleistungen zu garantieren - die eigentliche Ursache der Systemkrise.[84] Dabei scheuen sie nicht einmal davor zurück, sich auf das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit zu berufen: Die Universalität des Systems verstärke die Ungleichheit, da doch die Mittelklasse viel eher als die - wirklich bedürftigen - finanziell Schwächeren in der Lage sei, von den sozialen Dienstleistungen (Bildung, Gesundheitswesen, Versicherungen) zu profitieren. Verstärkt würde dieser Effekt noch durch die vielen Möglichkeiten der Steuerflucht, die sich den Wohlhabenden bieten, wodurch die finanziellen Grundlagen des Wohlfahrtsstaats noch mehr ausgehöhlt würden.

 

Zwar drücken sich die Reichen in der Tat gern vor der Steuer, aber es gibt durchaus Wege, sie anzuzapfen - zwar nicht bei ihrem leicht zu verbergenden Einkommen, aber doch bei ihrem Besitz und Luxuskonsum. Und wenn der Wohlfahrtsstaat mit dem Argument abgeschafft wird, es würde ja doch nur die Mittelklasse sich seiner bedienen, so entsteht daraus genau jenes almosenhafte „Sicherheitsnetz“ für die Ärmsten, wie wir es zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon einmal hatten. Unter der Universalität geben immerhin die besser Gestellten der Gesellschaft das, was sie dem Wohlfahrtsstaat verdanken, in Form von Steuern zurück. Ist die Universalität aber einmal aufgegeben, dann verzichtet die privilegierte „zufriedene Wählermehrheit“ ganz darauf, ihre Grundbedürfnisse von der Gesellschaft befriedigen zu lassen, nimmt statt dessen private Dienste in Anspruch und drängt bei den Politikern darauf, den Standard der staatlichen Sozialleistungen noch weiter zu senken. Was die europäischen Sozialliberalen hier vorschlagen, läuft am Ende auf das Gesundheits- und Bildungssystem der USA hinaus, das in seiner Polarisierung zwischen der Spitzenqualität der privaten und der Dürftigkeit der staatlichen Dienste vermutlich das sozial ungerechteste ist, das sich unter allen modernen Industriestaaten finden lässt. Um so etwas zu verhindern, müsste man zusammen mit der Universalität des Wohlfahrtsstaats auch das private Anbieten derartiger Leistungen verbieten - in der heutigen neoliberalen Marktwirtschaft einfach undenkbar!

 

Wenn also der Mythos von den explodierenden Sozialausgaben verbreitet wird, so nicht wegen der angeblichen Finanzkrise des Systems, wegen des demografischen Faktors oder Ähnlichem, sondern aus ganz anderen Gründen. Wenn etwa in Dänemark viele Krankenhäuser eine Altersgrenze für ihre Patienten eingerichtet haben (derzeit liegt sie bei 70 Jahren), so nicht deshalb, weil es jetzt mehr Alte gibt, sondern weil unter dem neoliberalen Konsens in den letzten 10 Jahren die Bettenzahl um 25% reduziert wurde.[85] Und englische Hospitäler haben, wie kürzlich bekannt wurde, für die Behandlung verschiedener Krankheiten sogar eine Altersgrenze von 65 eingeführt![86] Der wahre Grund für diese brutalen Einschnitte in das soziale Netz liegt eben darin, dass auf dem Weltmarkt ein Land um so konkurrenzfähiger ist, je niedriger seine „soziale Lohnkomponente“ ist. So hat denn auch in der EU, wo diese Komponente traditionell relativ hoch war (vor allem im Vergleich zu den Hauptkonkurrenten in den USA und im Fernen Osten), dieses Problem kritische Dimensionen angenommen.

 

Natürlich kann man auch mit Universalität die Ungleichheit, dieses wichtigste Nebenprodukt der Marktwirtschaft, nicht vollständig überwinden. Doch immerhin würde sie in der heutigen - von den Sozialliberalen unwidersprochen hingenommenen - Situation eine zusätzliche Barriere bilden gegen das Entstehen eines dualen Systems, also des Kontrastes zwischen privat organisierter Überversorgung einer Minderheit und einem „Sicherheitsnetz“, das gleichbedeutend ist mit einer Unterversorgung breiter Schichten, wenn nicht der Mehrheit der Bevölkerung.

 

Nimmt man eine radikale Perspektive ein, so kann die Wahl nicht zwischen der neoliberalen - direkten - und der sozialliberalen - indirekten - Verhinderung der Universalität getroffen werden; schließlich verstärken beide die Abhängigkeit des Individuums vom Staat und/oder Markt bei der Grundversorgung. Worum es vielmehr gehen muss: Soll diese Abhängigkeit gesteigert werden, oder soll die Autonomie der Bürger gestärkt werden, indem nämlich sie und ihre Gemeinschaften die Kontrolle über das System selbst erhalten?

 

Der Niedergang der Sozialdemokratie in der EU

 

Dass der sozialistische Etatismus auch in seiner mildesten Form gescheitert ist, lässt sich am Schicksal der Sozialdemokratie in ihrer Geburtsstätte Europa ablesen, denn die EU - der um die Wende zum 21. Jahrhundert die meisten Länder Europas angehören - betreibt unverkennbar die Ablösung des sozialdemokratischen durch den neoliberalen Konsens.

 

Die im Jahre 1950 mit den Römischen Verträgen eingeleitete Entwicklung zu einem einheitlichen europäischen Markt hat sich mit den Verträgen von 1992 und 1993 (Maastricht) beschleunigt und ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts so gut wie abgeschlossen. Der Druck hin zu einer beschleunigten Integration rührte von der zunehmenden Internationalisierung der Märkte und der verschärften Konkurrenz gegen den Rest der Triade (also Japan und die USA) her. Nur ein Markt von kontinentalen Dimensionen, so heißt es, böte genügend Sicherheit und Mengeneffizienz im Hinblick auf die extreme Konkurrenzsituation auf den internationalisierten Märkten des neuen Jahrhunderts. So hatte sich bereits in den 80er Jahren der Rückstand Europas gegenüber dem Rest der Triade erheblich vergrößert: Zwischen 1980 und 1996 ging der Anteil Europas am Weltexport um 1,5% zurück, während der US-Anteil um 12,5% zunahm, derjenige Japans sogar um 15%.[87] Der Grund: Seit langem hinkt Europas Konkurrenzfähigkeit hinter der anderer Weltregionen her. In den 15 Jahren seit 1980 ist sie um 3,7% zurückgegangen, während dieser Kennwert für die USA um 2,2% gestiegen ist und selbst der Wert des Spitzenreiters Japan immer noch um 0,5% zugenommen hat.[88]

 

Der neoliberale Trend macht sich auch in der Art der Integration bemerkbar. Hätte die beschriebene Beschleunigung bereits 1979 eingesetzt, als man in der Europäischen Kommission noch mit künftigen „Zielplanungen“ auf EU-Ebene rechnete,[89] so hätte die Integration ein völlig anderes Bild geliefert. Der einschlägige Kommissionsbericht atmete noch den Geist des - bereits in Auflösung begriffenen - Sozialdemokratischen Konsenses. Man strebte eine Art „Europäischen Keynesianismus“ an, der an die Stelle des - angesichts immer freierer Kapitalströme bereits überholten - nationalen Keynesianismus treten sollte.

 

Doch der auf die neoliberale Blüte der 80er Jahre folgende Zusammenbruch des Sozialdemokratischen Konsenses machte alle Vorstellungen von einem europäischen Keynesianismus hinfällig. Die Auffassung, die sich in der EU durchsetzte, lief darauf hinaus, die supranationale Vereinheitlichung allein durch den Abbau nationaler Kontrollen herbei zu führen, also auf neue, supranationale Kontrollmöglichkeiten - ausgenommen die rein monetären - zu verzichten. Also beschränkt sich die Exekutive Europas darauf, einem möglichst uneingeschränkten Unternehmertum möglichst einheitliche Institutionen zu schaffen, während man sich in Bezug auf Umwelt und Soziales auf diejenigen Mindeststandards zurückzieht, die mit dem neoliberalen Konsens gerade noch vereinbar sind.

 

Der Entscheidung für den Einheitlichen Europäischen Markt lag die neoliberale Annahme zu Grunde, es mangele den Volkswirtschaften Europas an „struktureller Anpassungsfähigkeit“, was sich wiederum aus unflexiblen Marktmechanismen und aus Konkurrenzbeschränkungen herleite. Der Cecchini-Bericht, das ideologische Fundament des Einheitlichen Marktes, erblickt diese in diversen physischen, technischen und fiskalischen Barrieren, unter denen der freie Fluss an Waren, Kapital und Arbeitskräften leidet.[90] Vor allem der freie Kapitalmarkt, also die erleichterte Bewegung unbegrenzter Kapitalmengen zwischen den Ländern, wird als wichtigste Voraussetzung für Verbesserungen genannt. Daher ist die Abschaffung aller Devisenkontrollen ein Kernstück des Abkommens von 1993.

 

Die wirklich wichtigen Barrieren werden in dem Bericht aber gar nicht explizit benannt, sondern sie ergeben sich implizit aus der herausragenden Rolle, die er der Konkurrenz beimisst. Es sind die - aus dem Sozialdemokratischen Konsens herrührenden - „institutionellen“ Einschränkungen der freien Konkurrenz, mit denen zunächst der Einheitliche Markt und dann der Vertrag von Maastricht aufräumen sollte. Das zielt also auf die keynesianischen Staatsinterventionen und andere Eingriffe zur Sicherung der Vollbeschäftigung, den hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat mit seinen Budgetproblemen, die Gewerkschaften mit ihren „restriktiven Praktiken“ sowie auf Staatsunternehmen, die nicht immer den Prinzipien mikroökonomischer Effizienzsteigerung gehorchen. Solange die Wirtschaft in den Ländern Europas noch nicht so stark internationalisiert war, ging von diesen Barrieren kaum eine Beeinträchtigung des Wachstums aus. Sobald aber die Internationalisierung der Wirtschaft und insbesondere die zunehmende Kapitalmobilität jeglichen nationalen Keynesianismus auszuschließen begann, zeigten sich die negativen Auswirkungen auf das Wachstum überdeutlich - siehe die Stagflationskrise der 70er Jahre, die Europa besonders hart traf.[91]

 

Gerade die Symptome, in denen sich die genannten Barrieren manifestierten - vor allem die Inflation und die riesigen, aus dem zunehmenden Etatismus resultierenden Budgetdefizite - waren es, die der Vertrag von Maastricht aufs Korn nahm. Im Zuge dieser Logik schreibt der Vertrag die Kriterien Preisstabilität, gesunde öffentliche Finanzen und „nachhaltige“ (dauerhaft tragbare) Zahlungsbilanzen fest. Vollbeschäftigung oder eine Verbesserung (ja auch nur die Bewahrung) der Sozialstandards werden hingegen nicht einmal mehr als Zielvorstellungen genannt! In Artikel 3A - vermutlich dem wichtigsten des gesamten Vertrages - heißt es unmissverständlich:

 

Hauptziel [der gemeinsamen Finanz- und Währungspolitik] soll die Erhaltung der Preisstabilität und - soweit damit verträglich - die Unterstützung der Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft in Übereinstimmung mit den Prinzipien offener Märkte und freier Konkurrenz sein ... Die diesbezüglichen Aktivitäten der Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft sollen den folgenden Leitlinien gehorchen: Preisstabilität, gesunde öffentliche Finanzen und Geldpolitik sowie eine nachhaltige Zahlungsbilanz[92]).

 

Es kann also nicht überraschen, dass die „soziale Dimension“ des Maastricht-Vertrages (obgleich von der Sozialdemokratie als Erfolg hingestellt) praktisch bedeutungslos ist. Wenn es um das Recht auf Arbeit, die Überbrückung von Ungleichheit, die Beseitigung der Armut u. dgl. geht, bietet der Vertrag nichts, was etwa dem vorgesehenen Anti-Inflations-Mechanismus gleichkommen würde. Selbst die Sozialcharta des Vertrages, auf die die Sozialdemokraten so stolz sind, verfolgt nicht soziale, sondern wirtschaftliche Ziele. Was sie eigentlich anstrebt, ist die Homogenisierung der Sozialstrukturen innerhalb der EU, damit die vergleichsweise gut gestellten Beschäftigten in den Kernregionen überhaupt mit denen aus der Peripherie - mit ihren viel niedrigeren sozialen Kosten - konkurrieren können.[93] Ein Wissenschaftler hat es in die Worte gefasst:“ Die Sozialcharta ist nicht an Menschen interessiert, sondern an effizienten und produktiven Arbeitskräften“. Man erkennt dies schon daran, dass sie die Arbeitslosen ebenso wenig erwähnt wie die Alten, die Behinderten oder diejenigen, die daheim die Kinder betreuen. Auch wird nichts über das Recht auf Wohnung, auf Bildung (ausgenommen Berufsausbildung) oder auf Gesundheitsversorgung der nicht Berufstätigen gesagt - ja nicht einmal über politische Grundrechte.[94]

 

So bestätigte der Maastricht-Vertrag nur den offen neoliberalen Charakter der Gemeinschaft, wie er sich bereits seit dem Einheitlichen Markt angekündigt hatte. Hauptziel ist und bleibt - qua niedriger Inflation - die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit. Dem dienen auch die Mechanismen der Phasen 2 und 3 der Europäischen Währungsunion. Wie der Einheitliche Markt dient auch die EWU weder der Integration der Menschen noch der Staaten, sondern allein der Integration der freien Märkte. Hierunter wird aber nicht nur die ungehinderte Bewegung von Waren, Kapital und Arbeitskräften verstanden, sondern dazu gehören auch „Flexibilität“, d.h. freie Preis- und Lohnfindung, sowie allgemeine Beschränkungen für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft. Hier liegt die Essenz der Vermarktwirtschaftlichung in der neuen EU unter dem neoliberalen Konsens. Ziel der neuen Institutionen ist offensichtlich die größtmögliche Freiheit für das organisierte Kapital, dessen Konzentration in jeder Weise erleichtert wird (siehe die massenhaften Übernahmen und Fusionen der späten 80er Jahre, als sich der Einheitliche Markt abzeichnete) und die kleinstmögliche Freiheit für die organisierte Arbeiterschaft, wozu jedes Mittel recht ist, vor allem natürlich die immer drohende Arbeitslosigkeit.

 

Bezeichnender Weise gibt es ja keinen Ersatz für die bisherigen nationalen Wirtschafts- und Arbeitsmarkt-Steuerungsinstrumente (die als Folge der „Konvergenzkriterien“ zusammen mit der fiskalischen Freiheit verschwinden müssen), etwa in Form einer gesamteuropäischen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Für den Kampf gegen die Inflation - welche die Konkurrenzfähigkeit und Profitabilität des Kapitals beeinträchtigt - wird sogar eine neue Behörde (die EZB) geschaffen. Die Eindämmung der Arbeitslosigkeit überlässt man hingegen de facto den Marktkräften und erreicht damit, dass Unter- und Nichtbeschäftigung ebenso zur Regel werden wie zunehmende Ungleichheit. Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass als Folge eines flexibleren Arbeitsmarktes neue Jobs entstehen werden, so wie es in den USA seit den 80er Jahren der Fall war. Doch auf dem American way lässt sich dieses Problem nur um den Preis immer rascher steigender Ungleichheit und Armut „lösen“.

 

Es gibt auch keine gemeinsame Sozialpolitik, die an die Stelle des zusammenbrechenden Wohlfahrtsstaats treten und sowohl die Grundbedürfnisse der Menschen (Gesundheit, Bildung, Sozialversicherung) abdecken als auch über ein Mindesteinkommen die „Euro-Armut“ zurückdrängen würde. Da man nur noch danach trachtet, die Konkurrenzfähigkeit gegenüber Japan und den USA zu steigern, ist Europas Ideal zu einem „Amerikanisierten Europa“ heruntergekommen, wo Luxus und Armut einander frontal gegenüber stehen und das Wohlleben der 40 Prozent ein umgekehrtes Spiegelbild des ausgegrenzten Restes darstellt. Nachdem Großbritannien der Vorreiter des neoliberalen Maastricht-Europas war, lässt sich dort bereits die Zukunft besichtigen, die dem Kontinent bevorsteht. So ging in der Thatcher-Ära der Anteil der ärmsten 10 Prozent am Volkseinkommen um mehr als ein Drittel zurück (von 4,6% 1979 auf 3% 1991), während gleichzeitig der Anteil der 10 Prozent an der Spitze der Sozialpyramide sich von 20,4% auf 25%, also um über ein Fünftel, erhöhte.[95]

 

Europa stellt also heute ein Modell für Wachstum durch wirtschaftliche Internationalisierung dar, ein System, das immer mehr Importe durch immer mehr Exporte ausgleichen muss und jede Art lokaler wirtschaftlicher Autarkie zerstört. Gewinner in diesem Prozess (der sowohl zwischen den drei Regionen der Triade als auch jeweils innerhalb der Regionen abläuft) wird sein, wer am konkurrenzfähigsten ist und die günstigsten technologischen Voraussetzungen für die unablässige Steigerung der Produktivität mitbringt.

 

Man kann demnach den Sozialdemokraten keinen Vorwurf daraus machen, sich dem neoliberalen Wesen des entstehenden Gesamteuropas angepasst und dadurch ihre sozialistischen Ideale „verraten“ zu haben - so wenig wie die Rezession der 90er Jahre auf die restriktiven Maßnahmen zurückgeführt werden kann, mit denen einige EU-Staaten die Einhaltung der Konvergenzkriterien von Maastricht erzwingen wollten. Träfen derartige Interpretationsversuche zu, dann könnten die „wahren“ Sozialisten das neoliberale System einfach dadurch überwinden, dass sie - einmal an der Macht - während der wirtschaftlichen Erholungsphase die alten Institutionen des Sozialdemokratische Konsenses wieder herstellten. Weder ist hier Verrat am Werk, noch können die Institutionen irgendwann „von innen heraus“ umgewandelt werden. Nähmen wir also - wie es die Sozialdemokraten samt ihren grünen Mitläufern tun - die internationalisierte Marktwirtschaft ebenso als gegeben hin wie den Zwang, mittels immer freierer Waren-, Kapital- und Arbeitsmärkte die Konkurrenzfähigkeit immer weiter zu steigern, dann kann es nur eine Sozialdemokratie geben - die sozialliberale.

Es liegt nämlich innerhalb der internationalisierten Wirtschaftsordnung - dieser jüngsten Phase der Ausbreitung der Marktwirtschaft - gar nicht mehr in unserer Macht zu wählen, ob der Staat seine Rolle minimieren soll oder nicht. Er muss es tun, denn nur dann ist das europäische Kapital überhaupt noch konkurrenzfähig gegenüber Japan und den USA, wo dem Kapital - in Ermangelung einer sozialdemokratischen Tradition - von jeher viel weniger Grenzen gezogen sind. Im Maastricht-Europa hat die soziale Demokratie sowohl national als auch supranational ihren Sinn verloren (siehe Kapitel 1). Jeder sozialdemokratische Versuch einer systematischen Veränderung der gesellschaftlichen Rolle des Staates würde Europa in der Konkurrenz gegenüber Japan und den USA zurückfallen lassen und zu einer massiven Kapitalflucht führen. Auch ein europaweiter Keynesianismus wäre nur denkbar, wenn er mit stabilem Wachstum in einer stark geschützten internen Marktwirtschaft gekoppelt würde. Diese Lösung steht aber in diametralem Gegensatz zur Logik und Dynamik des Systems. Und aus dem gleichen Grund sind Vorschläge wie die, über eine Nachbesserung des Maastricht-Vertrages der EU sozialdemokratische Ziele zu setzen, utopisch im negativen Wortsinn.

Der Punkt ist also nicht, ob es die neoliberalen oder die sozialliberalen Eliten sind, welche die politische Macht ausüben (die wirtschaftliche Macht liegt ohnehin bei den Multis). Der Punkt ist, ob die Macht ausschließlich bei den Bürgern und ihren Gemeinden liegt, wozu aber gänzlich neue Institutionen geschaffen werden müssen. Die wirkliche Alternative liegt in der Abschaffung des Systems der Marktwirtschaft selbst, gleich ob sozialliberal oder neoliberal, zu Gunsten eines Systems, das an Stelle des durch die Markt- und Wachstumswirtschaft ausgelösten Bedarfs die wahren Bedürfnisse der Menschen befriedigen kann. Grundlage eines solches Systems müsste die politische und kulturelle Autonomie und die wirtschaftliche Selbstversorgung der europäischen Regionen sein; dann wäre es auch in der Lage, allen Bürgern dieser neuen, wahrhaft europäischen Gemeinschaft einen angenehmen Lebensstandard zu sichern.

Der sozialdemokratische Mythos von der europäischen „Sozialen Marktwirtschaft“

Seit einigen Jahren erobert eine neue „Vision“ Europas Sozialdemokratie: die Vision von der den ganzen Kontinent umspannenden „sozialen Marktwirtschaft“. Nach Michel Albert ist „der Kapitalismus keine monolithische Struktur, sondern ein Bündel von Strömungen, unter denen sich zwei 'Schulen' unterscheiden lassen“.[96] Diese beiden Richtungen nennt er das „neo-amerikanische“ Modell und das „rheinische“ Modell einer „sozialen Marktwirtschaft“; zu Letzterem zählen neben Deutschland die skandinavischen Staaten sowie bis zu einem gewissen Grade auch Japan. Für Albert existieren verschiedene nationale Kapitalismen, die sich in ihren finanziellen Strukturen sowie - für uns noch wichtiger - in ihrer Umsetzung sozialer Schutzmaßnahmen unterscheiden: In den USA herrscht praktisch kein Schutz, in Großbritannien nimmt er rapide ab, während er in Deutschland noch eine wichtige Rolle spielt.

In Deutschland wurde nach dem Krieg eine Soziale Marktwirtschaft aufgebaut, ein „Volkskapitalismus“ [„‚stakeholder’ capitalism“; vgl. Kapitel 5 und 6, Seiten 238 u. 241 - d.Ü]. Man reorganisierte die entsprechenden Institutionen in der Absicht, die Bevölkerung als Ganzes in den Genuss der gesellschaftlichen Früchte ihrer Arbeit zu bringen. Schlüsselelement eines derartigen Kapitalismus ist ein regulierter Arbeitsmarkt. Anders als die liberalisierten und deregulierten Verhältnisse in Großbritannien und den USA ist der deutsche Arbeitsmarkt noch immer relativ starken gesellschaftlichen Eingriffen unterworfen. Es gibt eine hohe Arbeitslosenunterstützung, lange Kündigungsfristen, viel bezahlten Urlaub, Beschränkungen des Geschäftslebens etc. Schaut man also auf die beachtliche wirtschaftliche Leistung der Deutschen zwischen dem Ende des Krieges und ca. 1990, so liegt der Schluss nahe, dieser Rheinische Kapitalismus sei anderen Systemen nicht nur wirtschaftlich überlegen, sondern auch gerade wegen seiner Überlegenheit auf dem sozialen Feld nachahmenswert.

Inzwischen ist aber klar geworden, dass der Konkurrenzkampf zwischen der rheinischen „sozialen Marktwirtschaft“ und dem angelsächsischen Liberalisierungsmodell klar von Letzterem gewonnen wurde. In Kapitel 1 habe ich ausgeführt, warum es so kommen musste. Das Rheinische Modell ist kein Programm für die Zukunft, sondern ein Überbleibsel aus der etatistischen Phase der Vermarktwirtschaftlichung, das in der gegenwärtigen Internationalisierung der Marktwirtschaft keine Überlebenschance besitzt. Denn sobald sich in den 90er Jahren die weltweite Vermarktwirtschaftlichung intensivierte, geriet das Rheinische Modell in eine Krise - ein klares Signal dafür, dass ein nationaler Kapitalismus ohne „Homogenisierung“ seiner gesellschaftlichen Marktkontrollen - also Anpassung an die Konkurrenten - nicht lebensfähig ist.

 

Am deutlichsten lässt sich das an der stetigen Abnahme des Wirtschaftswachstums, der geradezu explosionsartigen Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Kapitalflucht erkennen. So fiel die jährliche Wachstumsrate des deutschen BIP von 3,3% für 1965-80 über 2,1% für 1980-90 auf 1,1% für 1990-94,[97] und in den 90er Jahren waren die deutschen Auslandsinvestitionen fünf mal höher als die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland.[98] Seit 1991 sind durch Produktionsverlagerungen ins kostengünstigere Ausland über 1 Mio. Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet worden.[99] Dies trug erheblich zum Anwachsen der Arbeitslosigkeit bei, die in den frühen 90ern um 50% stieg, während sie gleichzeitig in den USA um ein Viertel zurückging.[100] (Zur Bedeutung der US-amerikanischen „Lösung“ des Arbeitslosenproblems siehe auch Kapitel 4). Ende der 90er verharrte die Arbeitslosigkeit in Deutschland mit 8,4% immer noch auf dem Niveau von 1994, während sie sich in den USA auf 3,9% halbiert hatte.[101]

 

Direkte Ursache dieser Krise ist die „Inflexibilität“ des deutschen Arbeitsmarktes unter der „sozialen Marktwirtschaft“, die dazu geführt hatte, dass 1993 die Arbeitskosten in Deutschland die höchsten der Welt waren: 50% höher als in den USA und Japan, doppelt so hoch wie in Großbritannien, fünf mal so hoch wie in den Tigerstaaten Asiens und 46 mal so hoch wie in Russland und China![102] Auch wuchs Anfang der 90er die Produktivität merklich langsamer als die Löhne, wodurch die Stückkosten noch mehr stiegen und Deutschlands Konkurrenzfähigkeit weiter beeinträchtigt wurde.[103] Dies wiederum hatte negative Rückwirkungen sowohl bei den ausländischen Direktinvestitionen (in ein Hochkostenland wird ungern investiert) als auch bei den Exporten: In nur 7 Jahren ging der deutsche Anteil am Weltexport um 19% zurück.[104]

 

Es überrascht also nicht, wenn die deutschen Wirtschaftseliten inzwischen nach der Abschaffung des Systems der kollektiven Tarifverhandlungen rufen und eine strikte Einhaltung der Maastricht-Kriterien einfordern. Gerade die EWU gibt ja den Druck zur Vermarktwirtschaftlichung so direkt weiter, dass die „soziale Marktwirtschaft“ dem nicht standhalten kann. 1996 beschloss die Regierung Kohl ein Bündel von Maßnahmen zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes und zum Zurückfahren des Wohlfahrtsstaats. Damit wurde praktisch das Ende der „sozialen Marktwirtschaft“ in Deutschland eingeläutet, was zu erheblicher Unruhe bei den Gewerkschaften führte.[105]

 

Da eine „soziale Marktwirtschaft“ auf nationaler Ebene unmöglich geworden ist, fordern die europäischen Sozialdemokraten nun eine Europäisierung dieses Systems. So etwa Will Hutton:

 

Gemeinsam haben die Länder der EU die Macht, die Finanzmärkte zu regulieren und die Kapitalflüsse zu steuern. Sie können dazu beitragen, im Zuge einer weltumspannenden Vereinbarung Japan und die USA zu einer vernünftigen Regelung ihres Verhältnisses zu drängen. ... Europa kann für den gesamten Kontinent auf einheitlichen Sozialrechten bestehen; dann sind die Multis auch nicht mehr in der Lage, die einzelnen Länder gegeneinander auszuspielen und dadurch die Löhne und Arbeitsbedingungen zu drücken. Europa kann gemeinsame Umweltstandards und Verhaltensregeln für die Wirtschaft erlassen und so dazu beitragen, dass die Unternehmen allen Betroffenen verantwortlich sind, nicht nur ihren Aktionären. Ein Europa der Sozialen Marktwirtschaft könnte seine Regeln so formalisieren, dass ... eine auf Kooperation bedachte, verantwortungsbewusste Form des Kapitalismus am Leben erhalten werden kann.[106]

 

Doch wie ich schon oben (Kapitel 1) sagte, kann eine Marktsteuerung nur auf die einfache, regulierende Art erfolgen, und dem können Japan und die USA natürlich problemlos zustimmen, funktioniert die Marktwirtschaft dann doch um so reibungsloser. Wenn es aber um die „sozialen Kontrollen im engeren Sinne“ geht - so wie im obigen Zitat - haben beide Länder nicht den geringsten Grund dazu (und sind, mangels sozialdemokratischer Traditionen, in dieser Hinsicht auch keinem Druck ihrer Wählerschaft ausgesetzt). Schließlich würden derartige Eingriffe sie eines wichtigen komparativen Vorteils vor der europäischen und vor allem der deutschen Industrie berauben. Man müsste also, um solche Maßnahmen in Europa einführen zu können, den gesamten Kontinent vom Weltmarkt abkoppeln. So gewinnt denn auch dieser „neue Protektionismus“ zu Gunsten von Arbeitsplätzen und Umwelt seit kurzem unter den Sozialisten und Umweltpolitikern in Europa immer mehr Anhänger.[107]

 

Derartige protektionistische Bewegungen sind jedoch zum Scheitern verurteilt. Die Schlüsselrolle in der internationalisierten Marktwirtschaft spielen die transnationalen Konzerne, und deren Aktivitäten finden nicht nur innerhalb der jeweiligen Regionen, sondern auch zwischen diesen statt. Es war ja gerade nicht der intra-regionale, sondern der inter-regionale Handel, der in den Jahren 1958-1989 von der wachsenden Internationalisierung in erster Linie profitierte. Zwar nahm in Europa auch der intra-regionale Handel in diesen Jahren noch zu, doch wesentlich weniger als etwa der Handel zwischen Nordamerika und Europa einerseits und Asien andererseits.[108] Die Wachse-oder-stirb-Dynamik der Marktwirtschaft lässt sich einfach nicht auf einen einzelnen Wirtschaftsblock wie EU oder NAFTA beschränken, so wenig wie sie sich jemals an nationalstaatliche Grenzen hielt.

 

Solange sich die neo-protektionistische Bewegung mit Marktwirtschaft und Konkurrenz abfindet - wie es auf der Linken die Grünen und auf der Rechten Leute wie Buchanan et al. in den USA oder Goldsmith in Großbritannien tun - bleibt sie ahistorisch und im negativen Sinne utopisch. Ahistorisch, weil sie die strukturellen Veränderungen ignoriert, die zur internationalisierten Marktwirtschaft und zum heutigen neoliberalen Konsens geführt haben. Utopisch, weil sie übersieht, dass jeder ernst zu nehmende Versuch eines (klassisch oder neo-) protektionistischen Eingriffs in die Marktwirtschaft ineffizient und daher nicht konkurrenzfähig ist und demnach der Logik und Dynamik des Systems selbst widerspricht. Utopisch ist sie auch noch deswegen, weil sie unterstellt, man könne allein dadurch, dass man die Menschen vom üblen Charakter der Freihandels-Ideologie überzeugt, das Handelswesen, den IWF oder die Weltbank, ja den ganzen Kapitalismus zum „Ergrünen“ bringen. Wer die Rolle des Marktes minimieren möchte („Es kommt nicht darauf an, ihn zu 'überwinden', sondern ihm einen reduzierten, funktionalen Platz in unserem Leben zuzuweisen“[109]), der will sozusagen „ein bisschen schwanger“ sein!

 

Warum der „sozialistische“ Etatismus scheiterte


 

Ich möchte zum Abschluss dieses Kapitels herausarbeiten, warum der sozialistische Etatismus in seinen beiden Ausprägungen - dem „real existierenden Sozialismus“ und der Sozialdemokratie - scheitern musste: Es war der Versuch der Vereinigung zweier inkompatibler Elemente, nämlich des der Logik der Marktwirtschaft entsprechenden Wachstums und der an der sozialistischen Ethik orientierten Idee der sozialen Gerechtigkeit. Denn Wachstum, also die Wachstumswirtschaft, ist untrennbar mit der Konzen­tration ökonomischer Macht verknüpft, sei es als Folge des Marktmechanismus, sei es als gewolltes Element zentraler Planung. Soziale Gerechtigkeit andererseits ist ohne Gleichheit und verteilte ökonomische Macht, d.h. ohne Wirtschaftsdemokratie, nicht denkbar. Der sozialistische Etatismus aber, der jeden an den Früchten des Wachstums teilhaben lassen und im Fortschritt - d.h. im Wachstum - den höchsten Sinn des Lebens erblicken wollte, missachtete damit den fundamentalen Zusammenhang zwischen Wachstum und Machtkonzentration.

 

Außerdem enthielt der Versuch, Wachstum mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, eine tief liegende Unvereinbarkeit von Mittel und Zweck. Denn da sich die kapitalistische Wachstumswirtschaft zwangsläufig aus der Marktwirtschaft heraus entwickelte, passen das Mittel „Marktwirtschaft“ und das Ziel „Wachstum“ perfekt zusammen. Im sozialistischen Etatismus hingegen war das Ziel, nämlich die Wachstumswirtschaft, mit dem Mittel des Sozialdemokratischen bzw. Zentralplanungs-Etatismus nicht vereinbar - und dies um so weniger, je ausgeprägter der Etatismus war. Daher war vor allem das Zentralplanungssystem zum Scheitern verurteilt.

 

Die Bedeutung von Wachstum, Konkurrenzfähigkeit und Effizienz

 

Da beide - die kapitalistische Wachstumswirtschaft und der Staatssozialismus - das Ziel „Wirtschaftswachstum“ verfolgten, wurde auch in beiden Systemen sowohl die Produktion als auch Wirtschaft und Gesellschaft ganz allgemein nach den selben Prinzipien organisiert: Das treibende Motiv hieß „Profit“, entweder privat oder kollektiv ausgeteilt. Das wird klar, wenn man bedenkt, dass beide Formen des sozialistischen Etatismus sowohl das Effizienz- als auch das Konkurrenz-Prinzip propagierten. Denn zum einen erblickten beide in der ökonomischen Effizienz eine Vorbedingung für die Maximierung des Wachstums, zum anderen ist das Konkurrenzprinzip entweder direkt mit der Integration der Unternehmens (sozialdemokratische Staatsbetriebe) in die Marktwirtschaft oder indirekt mit der Integration der sozialistischen Wachstumswirtschaft in die weltweite Wachstumswirtschaft verknüpft.

 

Man kann sich hier nicht unbedingt der von Gunder Frank aufgestellten Behauptung anschließen, die Länder des „real existierenden Sozialismus“ hätten keine andere Wahl gehabt, als sich dem Konkurrenzprinzip zu unterwerfen.[110] Wenn diese Länder glaubten, konkurrenzfähig werden zu müssen, so nicht wegen ihrer Integration in den Weltmarkt, sondern weil sie mit der weltweiten Wachstumswirtschaft mithalten wollten („Amerika einholen und überholen!“). In Wirklichkeit waren diese Länder niemals voll in den Weltmarkt integriert: Erstens hat das Handelsvolumen zwischen Osteuropa und dem Westen stets nur einen winzigen Bruchteil des Welthandels betragen (vor dem Krieg weniger als 5% und nach dem Krieg ca. 10%).[111] Zweitens ist nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ klar geworden, dass dort intern eine völlig andere Preisstruktur als auf dem Weltmarkt vorherrschte, was dann auch zu großen Anpassungsproblemen führte.

 

Aber schauen wir uns den Effizienzbegriff genauer an. An ihm wurde der Erfolg der Bemühungen um die Entwicklung der Produktion in der „sozialistischen“ Wachstumswirtschaft gemessen. Technik und Organisation der Produktion wurden so betrieben, dass sowohl die Effizienz maximiert als auch die hierarchischen Strukturen abgesichert wurden. Aus diesem Grunde gab es auch keinen Unterschied (jedenfalls in Bezug auf das interne Funktionieren, die hierarchische Organisation der Produktion etc.) zwischen einer modernen kapitalistischen Fabrik und einer sowjetischen (selbst zu Lebzeiten Lenins, der dies übrigens ausdrücklich unterstützte). Hierin manifestiert sich natürlich der Glaube der Anhänger des sozialistischen Etatismus an die „Wertfreiheit“ der Technik, und ganz wie man die Technik nur als neutrales Mittel zum Zweck ansah, dessen Gebrauch jedem Gesellschaftssystem offen stand, so diente auch die Effizienz nur als neutrales Mittel zum Erreichen der Wachstumsziele. Und weil man darüber hinaus die Effizienz in der sozialistischen Wachstumswirtschaft genau so definierte wie die Kapitalisten (nämlich nach engen technisch-ökonomischen Kriterien unter Ausschluss ökologischer Kosten), waren schwer wiegende ökologische Folgen des Wachstums unvermeidlich. Obwohl also im Sozialismus sich das Wachstum nicht wie im Westen aus der Vermarktlichung ergab, traten diese Schäden auch dort ein (wegen des niedrigeren technologischen Niveaus sogar in stärkerem Umfang als im Westen).

 

Doch nun ein Blick auf das Konkurrenzprinzip: Unter der westlichen Sozialdemokratie blieb es intakt, wollte man doch nur etatistische und kapitalistische Konkurrenz miteinander „verheiraten“. So verblieben die verstaatlichten Industrien in der Marktwirtschaft und wurden mit unterschiedlichen Methoden dazu angehalten, ihre Konkurrenzfähigkeit mit anderen Industrien - gleich ob privat oder öffentlich, ob im In- oder Ausland - unter Beweis zu stellen. Und selbst im „real existierenden Sozialismus“, wo man durchaus gelegentlich den Individualismus anprangerte, hatte man doch schon recht früh auf materielle Anreize (um „mehr und besser zu produzieren“) als Ersatz für die sozialistische Selbstbestimmung zurückgegriffen und damit implizit das Konkurrenzprinzip bekräftigt. Dieses Prinzip, nach dem die Marktwirtschaft im Grunde organisiert ist, wurde also weder von der Sozialdemokratie (wo es explizite Geltung behielt) noch vom „real existierenden Sozialismus“ (wo es implizit hingenommen wurde) aufgegeben - ungeachtet der Tatsache, dass doch beide Systeme auf unterschiedliche Weise den Anspruch verkörperten, den institutionellen Rahmen der Marktwirtschaft zu überwinden. Konkurrenz ist nun aber einmal unvereinbar mit wirtschaftlich unabhängigen Menschen und Menschengemeinschaften, denn sie führt zu Arbeitsteilung und Spezialisierung und somit zur Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen der maßgebenden Eliten.

 

Man könnte demnach sagen, dass der Countdown zum Zusammenbruch, nicht nur des sozialistischen Etatismus selbst, sondern auch der ihm als Fundament dienenden Ideologien (Marxismus und Keynesianismus), in dem Augenblick einsetzte, da klar wurde, dass beide Spielarten des sozialistischen Etatismus letzten Endes auf der gleichen Grundlage standen wie die Marktwirtschaft und auch die gleichen hierarchischen Strukturen hervor bringen mussten. Hierfür gibt es subjektive und objektive Faktoren.

 

Subjektiv war es die allgemeine Desillusionierung über die Aussichten, unter dem Staatssozialismus jemals zu einer Umorganisation der Gesellschaft nach einem neuen Modell zu gelangen, das die Marktwirtschaft und deren Prinzipien überwinden konnte. Die wirtschaftliche Krise des Systems sowie die, angesichts der allgemeinen Fixierung auf den sozialistischen Staat und seine Bürokratie zwangsläufige, Bürokratisierung allen gesellschaftlichen Lebens ließen am Ende das staatssozialistische Projekt in eine Glaubwürdigkeitskrise geraten. Der Durchschnittsbürger stand sich offensichtlich besser, wenn er gleich für diejenigen optierte, die ihm die Konsumgüter wirklich herbeischaffen konnten, statt weiterhin ein System zu stützen, das selbst seine sozialistischen Versprechungen nicht erfüllte und ihm auch noch in vieler Hinsicht nur als schlechte Kopie der echten Marktwirtschaft erscheinen musste.

 

Objektiv war es die bereits erwähnte Tatsache, dass die aus der Wachstumsforderung abgeleiteten Ziele Effizienz und Konkurrenzfähigkeit und die sozialistischen Zielvorstellungen einander fundamental widersprechen. Denn die Kriterien der sozialen Gerechtigkeit, an denen sich der Sozialismus ausrichtet, sind ja viel weiter gespannt als die engen ökonomischer Effizienz- und Konkurrenzmaßstäbe und daher mit diesen unvereinbar.

 

Der Konflikt zwischen Wachstumswirtschaft und sozialistischer Ethik

 

Wir können also abschließend festhalten: Der „real existierende Sozialismus“ scheiterte, weil die Arbeitsweise einer Planwirtschaft in keiner Weise den Anforderungen einer Wachstumswirtschaft entsprach. Während in einer Marktwirtschaft die Kräfte des Marktes frei genug agieren können, um eine dem Wachstum angemessene Konzentration herbei zu führen, mussten in der Planwirtschaft die störenden Eingriffe der Bürokraten und Planungstechnokraten in den Wachstumsprozess, mit denen sie immer wieder die Gegensätze Gerechtigkeit und Wachstum miteinander in Einklang zu bringen suchten (beispielsweise durch „verdeckte Arbeitslosigkeit“), in wirtschaftlicher Ineffizienz enden. Es war in einer bürokratisch organisierten Wirtschaft auch so gut wie unmöglich, neue Produkte und Produktionstechniken einzuführen, was vor allem dem Konsumsektor mit seinem dezentralen Informationsbedarf schadete.

 

Gunder Frank hat folgende These aufgestellt[112]: Wie die Geschichte beweist, kann es, solange die Konkurrenz eine Grundgegebenheit der Welt, ein fact-of-life, ist, keinen „Sozialismus in einem Land“ geben und wird sich eine sozialistische Welt kaum von der heutigen unterscheiden. Ich kann diese These nur teilweise akzeptieren. Sie ist insoweit richtig, als sie festhält, dass eine sozialistische Gesellschaft (gleich ob staatssozialistisch oder eine autonome Zivilgesellschaft) in der Tat nicht lebensfähig ist, solange die zugehörige Wirtschaft in den Weltmarkt eingebunden ist. Daher ist ja auch das in Kapitel 6 vorgestellte Befreiungsprojekt nur innerhalb eines völlig neuartigen Wirtschaftssystems vorstellbar, eines Systems, das mehr ist als nur eine weitere Version der Markt- oder der Wachstumswirtschaft.

 

Inakzeptabel wird Franks These dort, wo er behauptet, man könnte „ein und das selbe Weltsystem, seine wesentliche Struktur und 'Funktionsweise', über mindestens 5.000 Jahre zurück verfolgen“. Als selbstregulierendes System, das dem Marktmechanismus die wirtschaftlichen Grundentscheidungen überlässt, ist es nämlich kaum 200 Jahre alt (siehe meine Ausführungen in Kapitel 1 und den überzeugenden Beitrag von Polanyi[113]). Auch wenn es zutrifft, dass es Märkte und Konkurrenz bereits vor der Industriellen Revolution gab, so widerlegt das nicht die wichtige Tatsache, dass diese den Wirtschaftsprozess nur am Rande tangierten. Denn vor dem Aufkommen der eigentlichen Marktwirtschaft spielte Konkurrenz bei der Preisfindung keine wesentliche Rolle; außerdem fand die Allokation der ökonomischen Ressourcen nicht in erster Linie über die Preise statt. Man kann sich daher fragen, ob Gunder Frank bei seiner (berechtigten) Ablehnung der marxistischen Geschichtstheorie nicht auch gleich (unbegründeter Weise) alle anderen Geschichtsinterpretationen zurückweist und insofern das Kind mit dem Bade ausschüttet. Nur weil es zu allen Zeiten irgendwelche Märkte gab, verkleistert er die krassen Unterschiede zwischen den früheren Gesellschaftsformen und der Marktwirtschaft unserer Tage.

 

Blicken wir nun zum Schluss noch einmal auf den Sozialdemokratischen Konsens, so ist auch hier festzustellen, dass sein Scheitern sich aus dem untauglichen Versuch herleitete, soziale Gerechtigkeit mit Wachstum zu verbinden. Auch der Sozialdemokratische Konsens zielte im Grunde auf die Dezentralisierung wirtschaftlicher Macht ab, in diametralem Gegensatz zur Logik und Dynamik der Marktwirtschaft. Wo es ihm tatsächlich gelang, das gesellschaftliche Kräftegleichgewicht zu verschieben, geriet er sofort mit der wachsenden Internationalisierung der Marktwirtschaft in Konflikt. In diesem Sinne stellen die gegenwärtige Vorherrschaft des neoliberalen Konsenses und die entsprechende wirtschaftliche Machtkonzentration nur die natürliche „Reaktion“ der Wachstumswirtschaft auf die sozialdemokratische „Aktion“ dar - und zugleich eine Phase in dem historischen Prozess der Vermarktlichung von Wirtschaft und Gesellschaft.


 

[1] Siehe Takis Fotopoulos, Dependent Development: the Case of Greece (Athens: Exantas Press, 1985, 1987), Kap. A (griechisch).

[2] Bei der Definition des Begriffs „Effizienz“ spricht man je nachdem von Technischer Effizienz (bei gegebener Input-Kombination ist entweder der Input minimal oder der Output maximal) oder von Produktionseffizienz (der Output kann durch keine Re-Allokation der Ressourcen erhöht werden) oder von Austauscheffizienz (die Wohlfahrt des Konsumenten kann durch keinen weiteren Austausch mehr gesteigert werden). Nur berücksichtigt diese nur scheinbar „neutrale“ Definition keinerlei Verteilungsaspekte; es ist auch durchaus denkbar, dass eine bestimmte Ressourcenallokation „effizient“ und dennoch nicht geeignet ist, die Bedürfnisse zahlreicher Bürger angemessen (oder überhaupt) zu befriedigen.

[3] Cornelius Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy (Oxford: Oxford University Press, 1991), S. 184.

[4] Adam Smith, The Wealth of Nations (Harmondsworth: Penguin, 1970), S. 104. Deutsch ders., Der Wohlstand der Nationen (München: DTV, 1988), S. 311 ff.

[5] Unter Bezugnahme auf Das Kapital, Bd. 3, und die Grundrisse bemerkt Scan Sayers:Marx sieht die immense Expansion der Produktion, die der Kapitalismus mit sich gebracht hat, als seinen fortschrittlichen und ‚zivilisierenden‘ Zug an“; Scan Sayers, „Moral values and progress“, New Left Review, Nr. 204 (März-April 1994), S. 67-85.

[6] John Grahl mit Bezug auf Elmar Altvater, Die Zukunft des Marktes (Münster: Westfälisches Dampfboot, 1992) in New Left Review, Nr. 214 (November-Dezember 1995), S. 155.

[7] Siehe James O’Connor, „Capitalism, nature, socialism“, Society and Nature, Vol. 1. Nr. 2 (1992), S. 174-202.

[8] Murray Bookchin, The Philosophy of Social Ecology (Montreal: Black Rose, 1995), S. 142.

[9] Martin J. Conyon, „Industry profit margins and concentration: evidence from UK manufacturing“, International Review of Applied Economics, Vol. 9, Nr. 3 (1995), S. 288.

[10] P. Nolan und K. O’Donnell, „Restructuring and the politics of industrial renewal: the limits of flexible specialisation“ in A. Pollert (Hrsg.) Farewell to Flexibility? (Oxford: Blackwell, 1991), S. 161.

[11] Tim Lang und Colin Hines, The New Protectionism: Protecting the Future Against Free Trade (London: Earthscan, 1993), S. 34.

[12] Siehe z.B. Peter Kropotkin, Fields, Factories and Workshops Tomorrow (London: Hutchinson, 1899) und Colin Wandins Zusätze zur englischen Neuausgabe: (London: Allen & Unwin, 1974). Deutsch: Kropotkin, Landwirtschaft, Industrie und Handwerk (Berlin: Kramer, 1976). Siehe auch Kropotkin, The Conquest of Bread, (Harmondsworth: Penguin, 1972), Kapitel 16. Deutsch ders., Die Eroberung des Brotes (Grafenau: Trotzdem, 1989).

[13] Peter Kropotkin, Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, S. 34-5, 47-9.

[14] P.J. McGowan und B. Kurdan, „Imperialism in world system perspective“, International Studies Quarterly, Vol. 25, Nr. 1 (März 1981), S. 43-68.

[15] Paul Bairoch, The Economic Development of the Third World Since 1900 (London: Methuen, 1975), S. 190-2.

[16] Berechnet nach: World Development Report 1994 und World Development Report 1981 (Washington, DC: World Bank).

[17] International Monetary Fund, International Financial Statistics (div. Jahre); World Bank, World Development Report 1995, Tabelle 13.

[18] Paul Hirst und Grahame Thompson, Globalization in Question (Cambridge: Polity Press, 1996), Tabellen 3.2, 3.3, 3.4.

[19] Mike Campbell, Capitalism in the UK (London: Croom Helm, 1981) Tabelle 3.2; John Allen und Doreen Massey (Hrsg.), Restructuring Britain: the Economy in Question (London: Sage, 1988), Diagram 5.1.

[20] Phillip Armstrong et al., Capitalism Since World War II (London: Fontana, 1984), S. 216-18.

[21] John Allen und Doreen Massey (Hrsg.), Restructuring Britain: The Economy in Question, S. 192-200.

[22] Paul Hirst und Grahame Thompson, Globalization in Question, S. 53.

[23] Siehe z.B. das Interview mit Alvin Toffler in The Guardian (13. Januar 1996).

[24] Michael Carley und Ian Christie, Managing Sustainable Development (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1993), S. 50.

[25] Andrew McLaughlin, „What is deep ecology?“, Capitalism, Nature, Socialism, Vol. 6/3, Nr. 23 (September 1995).

[26] World Bank, World Development Report 1995, Tabelle 2.

[27] Paul Hirst und Grahame Thompson, Globalization in Question, S. 163.

[28] Umfassende Analysen dieses Prozesses hat Murray Bookchin geliefert, vor allem in Remaking Society (Montreal: Black Rose, 1990); deutsch Die Neugestaltung der Gesellschaft (Grafenau: Trotzdem, 1992); The Ecology of Freedom (Montreal: Black Rose, 1991), deutsch Die Ökologie der Freiheit (Weinheim: Beltz, 1985) und From Urbanization to Cities: Towards a New Politics of Citizenship (London: Cassell, 1995).

[29] W.I. Lenin, Staat und Revolution, Werke, Band 25, S. 393-507, (Berlin: Dietz Verlag, 1974), hier S. 409.

[30] G.P. Maximoff, The Political Philosophy of Bakunin (New York: The Free Press, 1953), S. 287.

[31] Siehe z.B. Michael Bleaney, The Rise and Fall of Keynesian Economics (London: Macmillan, 1985), insbes. Kap. 12.

[32] Siehe z.B. Paul Sweezy, The Theory of Capitalist Development (New York: Monthly Review Press, 1942), S. 87-92.

[33] Michael Ellman, Socialist Planning (Cambridge: Cambridge University Press, 1979), S. 267-8.

[34] The Guardian (26. November 1992).

[35] Michael Barratt-Brown, Models in Political Economy (Harmondsworth: Penguin, 1984.) S. 144.

[36] A. Szymanski, „The socialist world system“, in Socialist States in the World System, C.K. Chase-Dunn (Hrsg) (London: Sage Publications, 1982), Tabelle 2.3. Im World Development Report 1997 bezieht sich die durchschnittliche BIP-Wachstumsrate der 80er Jahre ausschließlich auf die Russische Föderation.

[37] Als Beispiel für die liberale, nicht der extremen Rechten zuzurechnende Sichtweise siehe die Arbeiten des bekannten britischen Kremlforschers Alec Nove, The Economics of Feasible Socialism (London: Allen & Unwin, 1983). Zur linken staatssozialistischen Kritik an Nove siehe: F. Mandel, „In defence of socialist planning“, New Left Review, Nr. 159 (Sept.-.Okt. 1986).

[38] Alec Nove, The Soviet economy: problems and prospects“, New Left Review, Nr. 119 (Januar-Februar 1980), S. 3-19.

[39] Derartige Ansichten finden sich z.B. in: Cornelius Castoriadis, Political and Social Writings (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1988), Vol. 1-2, sowie auch bei dem ostdeutschen Grünen Rudolf Bahro - der sich zu jener Zeit noch nicht für einen „Grünen Adolf“ stark machte, siehe Janet Biehl, „Ecology and the modernization of fascism in the German ultra-right“, Society and Nature, Vol. 2, Nr. 2(1994);-R. Bahro, Die Alternative (Berlin: Tribüne, 1990).

[40] Siehe das Interview mit Alexander Yakovlev in The Guardian (20. August 1991) und auch sein Buch The Fate of Marxism in Russia (Yale: Yale University Press, 1993).

[41] Leo Trotzki, The Revolution Betrayed (New York: Merit, 1965). Deutsch ders., Verratene Revolution (Essen: Arbeiterpresse, 1997).

[42] Peter Gowan, „Neo-liberal theory and practice for Eastern Europe“, New Left Review, Nr. 213 (September-Oktober 1995), S. 40.

[43] Jeffrey Sachs, „What is to be done?“, The Economist, 13. Januar 1990.

[44] Peter Gowan, „Neo-liberal theory and practice“, S. 6-7.

[45] Peter Gowan, „Neo-liberal theory and practice“, S. 24.

[46] J.M.C. Rollo und J. Stern, „Growth and trade prospects for Central and Eastern Europe“, The World Economy, Nr. 199 (zitiert in Peter Gowan, „Neo-liberal theory and practice“, S. 55).

[47] Ein vielsagendes Beispiel: Um vom IWF eine Anleihe von $ 1,5 Mrd. zu erhalten, mussten Jelzin und die russische Zentralbank eine drastische Reduzierung der russischen Exportsubventionen versprechen. Gleichzeitig weigerte sich die EU aber, die Zölle auf osteuropäische Produkte zu senken, wodurch sich das russische Handelsdefizit weiter vergrößerte; The Guardian (26. Mai 1993).

[48] The Guardian (24. März 1993).

[49] The Guardian (16. März 1994).

[50] OECD, Integrating Emerging Market Economies into the International Trading System (Paris: OECD, 1994) (zitiert in Peter Gowan, „Neo-liberal theory and practice“, S. 17).

[51] The Guardian (3. Dezember 1994).

[52] Zitiert in Peter Gowan, „Neo-liberal theory and practice“, S. 22.

[53] World Bank, World Bank Development Report 1995, Tabelle 26. Einer kürzlichen Untersuchung zu Folge stieg die Sterberate in Russland von 11,4 (1991) über 14,4 (1993) auf 16,2 (1994): Michael Ehlman, „The increase in death and disease under ‚Katastroika’“, Cambridge Journal of Economics, Nr. 18 (1994), S. 349.

[54] The Guardian (16. November 1992).

[55] The Guardian (7. Juli 1993).

[56] Siehe Markus Mathyl, „Is Russia on the road to dictatorship?“, Green Perspectives, Nr. 34 (Dezember 1995).

[57] Alexander Buzgahin und Andrei Kolganov, „Russia: the rout of the neo-liberals“, New Left Review, Nr. 215 (Januar-Februar 1996), S. 132.

[58] Sheldon Wolin, „What revolutionary action means today“ in Chantal Mouffe (Hrsg), Dimensions of Radical Democracy, (London: Verso, 1995, 1992), S. 241.

[59] B. Cumings, „The abortive abertura“, New Left Review, Nr. 173 (Jan.-Feb. 1989), S. 5-32.

[60] P. Bachrach, The Theory of Democratic Elitism (Boston, 1967), S. 8-9.

[61] Paul Bowles und Xiao-Yuan Dong, „Current successes and future challenges in China’s economic reforms“, New Left Review, Nr. 208 (November-Dezember 1994), Tabelle 1.

[62] W. Byrd, The Market Mechanism and Economic Reform in China (New York: Armonk, 1991), S. 219 (zitiert in Paul Bowles und Xiao-Yuan Dong, „Current successes and future challenges in China’s economic reforms“).

[63] World Bank, World Development Report 1991, Fig. 1.1.

[64] Richard Smith, „The Chinese road to capitalism“, New Left Review, Nr. 199, (Mai-Juni 1993), S. 69.

[65] Richard Smith, „The Chinese road to capitalism“, S. 96-7.

[66] Paul Hirst und Grahame Thompson, Globalization in Question, S. 108. Dies stützen auch andere Untersuchungen, in denen bestätigt wird, dass die räumliche Einkommensverteilung während der Reformperiode immer ungleicher geworden ist. Siehe z.B. C. Brammah und M. Jones, „Rural incorne inequality in China since 1978“, Journal of Peasant Studies, Vol. 21, Nr. 1 (Okt. 1993).

[67] Andrew Higgins zitiert hier Hu An Gang, prominenter chinesischer Ökonom an der Chinese Academy of Social Sciences, in The Guardian (30. Mai 1996).

[68] Simon Long (einen Artikel in der chinesischen Tageszeitung Economic Information Daily zitierend), The Guardian (8. Januar 1994).

[69] Catherine Field, The Observer (13. Februar 1994).

[70] Richard Smith, „The Chinese road to capitalism“, S. 95.

[71] Paul Bowles und Xiao-Yuan Dong, „Current successes and future challenges in China’s economic reform), S. 50.

[72] Gabriel Kolko, Anatomy of a War (New York: The New Press, 1994) zitiert in John Gittings, The Guardian (13. Januar 1995).

[73] „Introduction“, in P. Anderson und P. Camiller (Hrsg.), Mapping the West European Left (London: Verso, 1994), S. 15-16.

[74] Andrew Martin, „Labour, the Keynesian welfare state, and the changing international political economy“ in Richard Stubbs und Geoffrey R.D. Underhill, Political Economy and The Changing Global Order (London: Macmillan, 1994), S. 70.

[75] Eric Helleiner, „From Bretton Woods to global finance: a world turned upside-down“ in Richard Stubbs und Geoffrey R.D. Underhill, Political Economy, S. 173.

[76] Jan Fagerberg et al. „The decline of social-democratic state capitalism in Norway“, New Left Review, Nr. 181, Mai-Juni 1990, S. 88.

[77] Siehe Tom Notermans’ Aufsatz in Politics and Society, Juni 1993.

[78] Paul Hirst und Grahame Thompson, Globalization in Question.

[79] Siehe z.B. Martin Jacques, Sunday Times (18. Juli 1993).

[80] Siehe z.B. Nicos Mouzehis, „Four problems regarding modernization“, To Vima (25. Juli 1993) (griechisch).

[81] The Guardian (20. Dezember 1993).

[82] Siehe Will Hutton, The Guardian (18. August 1993).

[83] European Consumers Bureau Report / The Guardian (13. Februar 1992).

[84] Siehe z.B. den Artikel des LSE-Professors Nicos Mouzelis, „The future of the welfare-state“, in der Athener Tageszeitung Eleftherotypia (1.-2. Januar 1994). (griechisch)

[85] Le Monde (8. Februar 1994).

[86] BBC, April 1994.

[87] World Bank, World Development Report 1998/99, Tabelle 15.

[88] World Economic Forum (1993).

[89] Siehe European Commission, The Challenges Ahead - A Plan for Europe (Brussels, 1979).

[90] Paolo Cecchini, 1992: The European Challenge (London: Wildwood House, 1988), S. 4

[91] In den 70er Jahren lag die BIP-Wachstumsrate in so wichtigen europäischen Ländern wie Deutschland, Großbritannien oder Italien deutlich unter 3%, während sie in den USA häufig darüber lag und in Japan sogar 5% überstieg (World Bank, World Development Report 1981, Tabelle 2).

[92] European Commission, Treaty on European Union (Maastricht, 1992).

[93] D. Piachaud, Professor an der LSE, zieht einen ähnlichen Schluss; The Guardian (13 Nov. 1991).

[94] F. Weber, „Impact of the Social Charter“, Europe 1992 (Dublin, 1991), S. 34, 37.

[95] Alissa Goodman und Steven Webb, For Richer, For Poorer (London: Institute of Fiscal Studies, 1994), Fig. 2.3.

[96] Michel Albert, Capitalism Against Capitalism (London: Whurr, 1993), S. 5.

[97] World Bank, World Development Report 1995, Tabelle 2, und 1996, Tabelle 11

[98] Norbert Walter, „German social market economy needs new lease of life“, The Guardian (13. Februar 1995).

[99] Mark Frankhand, The Observer (24. Dezember 1995).

[100] Während die Arbeitslosenrate in Deutschland von 5,6% 1991 auf 8,4% 1994 stieg, ging sie in den USA von 7,4% 1992 auf 5,6% 1995 zurück (European Commission, Eurostatistics (November 1995); OECD, Economic Outlook, Nr. 58 (Dezember 1995)).

[101] Ian Traynor, The Guardian, 25. Januar 1996.

[102] David Kerr, „British manufacturing is starting to score at the expense of inflexible European competitors“, The Guardian (16. Januar 1995).

[103] So fiel nach World Competitiveness Yearbook (London: International Institute for Management Development, 1996) Deutschland in der Rangfolge der Konkurrenzfähigkeit von 1995 auf 1996 vom 6. auf den 10. Platz zurück, während die USA den Spitzenplatz verteidigten.

[104] Der deutsche Exportanteil fiel von 11,7% 1989 auf 9,5% 1996 (World Bank, World Development Report, 1991 und 1997, Tabelle 13 bzw.

[105] Auch nachdem das rot-grüne Bündnis an die Regierung gelangte, konnte es den Zusammenbruch des Rheinischen Modells nicht verhindern, zumal sich beide Parteien hinter die Verträge von Maastricht und Amsterdam stellen, die den neoliberalen Konsens fest schreiben. Was insbesondere die Grünen betrifft, so belegt ihr Aufstieg zur Macht und ihre Haltung zum Kosovo-Krieg der NATO nur das Ende der Grünen Bewegung als Kraft der Befreiung (siehe meine Ausführungen in „The First War of the Internationalized Market Economy“, Democracy and Nature, Vol. 5 Nr. 5, S. 357-382). [neue Anmerkung zur deutschen Ausgabe]

[106] Will Hutton, The State We’re In (London: Jonathan Cape, 1995), S. 15-16.

[107] Tim Lang und Colin Hines, The New Protectionism: Protecting The Future Against Free Trade (London: Earthscan, 1993).

[108] Marc L. Busch und Helen V. Millet, „The future of the international trading system: international firms, regionalism and domestic politics“ in Richard Stubbs und Geoffrey R.D. Underhill, Political Economy and the Changing Global Order (London: Macmillan, 1994), Tabelle 1.

[109] Jeremy Seabrook, The Myth of the Market (Devon: Green Books, 1990) S. 33.

[110] André Gunder Frank, „Is real world socialism possible?“, Society and Nature, Vol. 2, Nr. 3 (1994).

[111] Siehe Alan A. Brown und Egon Neuberger, International Trade and Central Planning (Berkeley: University of California Press, 1968), Tabelle 1, sowie World Development Report (World Bank, div. Jahre).

[112] André Gunder Frank, „Is real world socialism possible?“

[113] Siehe Karl Polanyi, The Great Transformation (Boston: Beacon Press, 1944). ( Zur jün­geren Diskussion von Polanyis These siehe auch Kari Polanyi-Levitt (Hrsg), The Life and Work of Karl Polanyi (Montreal: Black Rose, 1990).

 

 


 

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