Schwarzer Faden, Nr. 76 (Früjahr 2004)

Translated from Democracy and Nature, Vol.7, No.2, 2001 (excerpts) by Helmut Richter


Für eine demokratische Globalisierung

TAKIS FOTOPOULOS

 


Jeder redet heute über Globalisierung, aber nur wenige versuchen diesen Begriff zu definieren. Dies wäre aber wichtig, weil selbst in analytisch denkenden Köpfen erhebliche Verwirrung herrscht. Jeder versteht unter Globalisierung etwas anderes. Überwiegend wird nur die wirtschaftliche Globalisierung gesehen, die doch nur einen Aspekt oder eine Komponente – wenn auch die wichtigste – der Globalisierung darstellt. Man kann aber außerdem von technischer, politischer, kultureller und sozialer Globalisierung sprechen. So bezieht sich die technische Globalisierung auf die Informatikrevolution und die neuen Kommunikationstechniken. Die politische Globalisierung ergibt sich aus dem Absterben des Nationalstaates (insoweit er seine ökonomische Souveränität eingebüßt hat). Die kulturelle Globalisierung äußert sich in der gegenwärtig ablaufenden Homogenisierung der Kultur, wenn beispielsweise in unserem ‚Globalen Dorf‘ praktisch jedermann dieselben Videos und TV-Serien anschaut, die gleichen Produkte konsumiert (oder wenigstens danach strebt) usw. Die soziale Globalisierung schließlich umfasst die Vereinheitlichung der heutigen Lebensstile, die nur noch um Individualismus und Konsum kreisen.

Zwischen diesen verschiedenen Aspekten oder Komponenten der Globalisierung bestehen zweifellos zahlreiche Querverbindungen. Dennoch lässt sich behaupten, dass einzig die ökonomische Globalisierung die anderen Erscheinungsformen bedingt. Denn in einer Marktwirtschaft stellt die Wirtschaft das die Gesellschaft beherrschende Element dar, auch wenn das die Autonomie der übrigen Elemente nicht ausschließt. Will sagen, zwischen den verschiedenen Elementen besteht eine asymmetrische Beziehung in dem Sinne, dass in einer Marktwirtschaft das ökonomische Element das politische konditioniert, wohingegen es in den ex-‚kommunistischen‘ Gesellschaften gerade umgekehrt war, denn dort bestimmte die Politik über die Ökonomie. Auf jeden Fall sind die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen sowohl von Autonomie als auch von Interdependenz bestimmt. D.h. die Sphären der Kultur, Wirtschaft und Politik sind nicht unabhängig voneinander – selbst in solchen Marktwirtschaften, in denen die Trennung der Sphären augenfällig ist. Wir haben es also mit einem Interaktionsprozess zu tun, bei dem die technische Globalisierung einerseits die wirtschaftliche Globalisierung fördert und andererseits von ebendieser selbst verstärkt wird, bei dem die politische Globalisierung notwendiger Weise die wirtschaftliche Globalisierung flankiert und bei dem schließlich die kulturelle und die soziale Globalisierung zwangsläufig aus der wirtschaftlichen Globalisierung folgen. Ich will mich daher auf die wirtschaftliche Erscheinungsform – als die bestimmende Komponente der allgemeinen Globalisierung – konzentrieren.

Zunächst müssen wir eine deutliche Trennlinie zwischen den Begriffen "Wirtschaftliche Globalisierung" und "Internationalisierung der Marktwirtschaft" ziehen. "Globalisierung" bezieht sich auf eine grenzenlose globale Wirtschaft, wo jeder ökonomische Nationalismus eliminiert ist und die Produktion in dem Sinne internationalisiert worden ist, dass die großen Konzerne sich zu staatenlosen Körperschaften mit Länder übergreifend integrierter Arbeitsteilung gewandelt haben. ‚Internationalisierung‘ hingegen liegt dort vor, wo die Märkte internationalisiert sind, wo also grenzüberschreitend freier Kapital- und Warenverkehr herrscht (bei Wirtschaftsblöcken wie der EU gilt dies auch für die Arbeitskräfte), der Nationalstaat zwar noch existiert und sich mit den Multinationalen Konzernen in die Macht teilt, seine Rolle aber zunehmend auf die Sicherstellung eines stabilen Umfeldes für ökonomische Markteffizienz reduziert sieht. In einem solchen System internationalisierter Märkte wird die Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten wie auch die Reproduktion der Wachstumswirtschaft selbst von den grenzüberschreitenden Waren- und Kapitalströmen bedingt. Denn internationale Institutionen wie der Weltwährungsfonds (IWF), die Weltbank oder die Welthandelsorganisation (WHO) folgen nur auf dem Papier den Anweisungen ihrer Mitgliedsstaaten; in Wahrheit vertreten sie die Interessen der transnationalen Wirtschaftseliten – die im übrigen in den großen Marktwirtschaften die maßgebende Rolle bei der Auswahl der politischen Eliten spielen.

Historie der ökonomische Globalisierung

Da die internationalisierte Marktwirtschaft Systemcharakter hat und der erste Anlauf dazu im 19. Jahrhundert erfolgte, ist es zum Verständnis der Umfassenden Demokratie nützlich, einmal einen Blick auf diese Zeit zu werfen. Als sich die moderne Gesellschaft herausbildete, implizierte dies eine institutionelle Trennung der Gesellschaft sowohl von der Wirtschaft (= Marktwirtschaft) als auch von der politischen Sphäre (= repräsentative "Demokratie"). Sobald das System der Marktwirtschaft sich gefestigt hatte, brachen soziale Konflikte aus, die150 Jahre andauerten, von der Industriellen Revolution bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhundert – Kämpfe zwischen den Herren über die Marktwirtschaft, also der die Produktion und Distribution kontrollierenden kapitalistischen Elite, und der übrigen Gesellschaft. Diejenigen, die die Marktwirtschaft kontrollierten (und dabei die Unterstützung anderer sozialer Gruppierungen fanden, nämlich der Nutznießer des institutionellen Umfeldes), strebten danach, Arbeit und Boden möglichst weit gehend den Marktkräften zu unterwerfen und zu diesem Zweck alle gesellschaftlichen Schutzmechanismen dieser beiden Bereiche so weit wie möglich abzuschaffen, um eben ihre freie, kostengünstige Beweglichkeit zu gewährleisten. Die Gegenseite, also vor allem die in dieser Periode mächtig anschwellende Arbeiterklasse, wollte ihrerseits die gesellschaftlichen Arbeitskontrollen maximieren und es auf diese Weise der Gesellschaft ermöglichen, sich gegen die Gefahren der Marktwirtschaft – vorrangig Armut und Arbeitslosigkeit - zu schützen.

Auch wenn solche sozialen Konflikte, also "subjektive" Faktoren, zu allen Zeiten eine wichtige Rolle als Bestimmungselement der jeweiligen Moderne gespielt haben, so sollte man doch m.E. den Einfluss ‚objektiver‘ Faktoren nicht zu niedrig einschätzen. Dies aber unterläuft Castoriadis, dem bedeutenden Demokratietheoretiker, wenn er das von ihm so genannte "imaginäre" Element der Geschichte überbetont und dabei die "systemischen" Elemente vernachlässigt. In der gesamten Geschichte der Marktwirtschaft waren diese‚ objektiven‘ Faktoren wirksam, vielleicht weniger im strengen Sinne der marxistischen "wissenschaftlichen" Ökonomie mit ihrem "Gesetz der abnehmenden Profitrate" und ihren‚ Akkumulationsphasen‘, sondern eher in der allgemeinen Dynamik des "Wachse oder stirb", die zur Internationalisierung der Marktwirtschaft geführt hat. Jedenfalls lassen sich die Motive und Handlungen der Wirtschaftseliten aus derartigen objektiven Faktoren herleiten, auch wenn stets unklar – und unvorhersehbar – blieb, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ergebnisse die sozialen Kämpfe letztlich haben würden.

Erstes Ergebnis dieser Kämpfe war im 19. Jahrhundert die liberale Moderne, die sich allerdings nur von den 30er zu den 80er Jahren hielt. Dem schloss sich eine relativ kurze Periode im 20. Jahrhundert an, in der die Moderne mit Etatismus gleichgesetzt wurde, bis dieser in den Siebzigern vom heutigen Neoliberalismus abgelöst wurde. In der Zeit des klassischen Liberalismus führte die Wachstumsdynamik die Marktwirtschaft in eine immer stärkere Internationalisierung, verbunden mit einem ersten gezielten Versuch der Wirtschaftseliten, mittels Freihandel, flexiblen Arbeitsmärkten und per Goldstandard festgelegten Wechselkursen eine völlig liberalisierte internationalisierte Marktwirtschaft aufzubauen. Dieser Versuch schlug allerdings fehl und endete im Zusammenbruch der liberalen Moderne, weil eine notwendige Bedingung für eine selbstregulierte Marktwirtschaft nicht erfüllt war, nämlich ein offener und flexibler Waren- und Kapitalmarkt. Ein derartiger Markt konnte natürlich zu einer Zeit noch gar nicht existieren, da die großen Kolonialmächte wie England und Frankreich über weite Teile der Erde eine nahezu monopolistische Macht ausübten, was wiederum auf Kosten aufsteigender nichtkolonialer Mächte wie der USA oder kleinerer Kolonialmächte wie Deutschland ging. Dieser erste Versuch einer Internationalisierung war auch schon deswegen zum Scheitern verurteilt, weil die damaligen Wirtschaftseliten sich rein national definierten. Bei der heutigen transnationalen Wirtschaftselite sieht das ganz anders aus, womit eine notwendige Bedingung für die Entstehung einer wahrhaft internationalisierten Marktwirtschaft erfüllt ist.

Es gab also nach der ersten liberalen Moderne zunächst eine protektionistische Übergangsphase, nach deren Ende unter dem Druck der sozialistischen Bewegung die Moderne eine neue, etatistische Form annahm - im Westen die Sozialdemokratie, im Osten der sowjetische Etatismus. Diese etatistische Ausprägung der Moderne realisierte sich im Osten als systematische Unterdrückung jeder marktgesteuerten Ressourcenallokation und gleichzeitig im Westen als Versuch einer spürbaren Marktkontrolle mit dem Ziel, die Arbeiterschaft zu schützen. Warum mussten beide Ansätze scheitern?

Im Osten lag es an der zunehmenden Unvereinbarkeit zwischen den Anforderungen einer ‚effizienten‘ Wachstumswirtschaft und den institutionellen Strukturen (vor allem dem Planungszentralismus und der Parteidemokratie), die gemäß der marxistisch-leninistischen Ideologie in diesen Ländern aufgebaut worden waren.

Im Westen herrschte eine entsprechende Unvereinbarkeit zwischen dem zunehmenden Etatismus und der gleichzeitig beschleunigt ablaufenden Internationalisierung der Märkte. Indem die objektiven Bedingungen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Konflikte sich gravierend veränderten, führten sie den Zusammenbruch der westlichen, etatistischen Moderne herbei. Hier ist etwa an die immer weiter gehende Öffnung der Waren- und Kapitalmärkte mit den entsprechend veränderten Anforderungen an die Geschäftswelt zu denken, verbunden mit dem Erstarken der neoliberalen Bewegung und dem gleichzeitigen Schrumpfen der Arbeiterklasse, also dem massiven Rückzug der Arbeiterbewegung als Folge von Deindustrialisierung und technologischem Wandel.

Der Ansatz der Umfassenden Demokratie (UD) versteht die Internationalisierung der Marktwirtschaft als einen Prozess, der von Anfang an durch die Marktwirtschaft selbst in Gang gesetzt worden war. Zwar haben nach dem Zweiten Weltkrieg die hoch entwickelten kapitalistischen Länder auf die Ausbreitung des real existierenden Sozialismus und den Erfolg der nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt dadurch reagiert, dass sie die Internationalisierung der Marktwirtschaft aktiv voran trieben. Das ändert aber nichts daran, dass vor allem "objektive" Faktoren der Marktdynamik dafür verantwortlich waren, während die "subjektiven" Faktoren der Sozialkonflikte nach dem Abtreten der Arbeiterbewegung eine eher passive Rolle spielten. In diesem Sinne muss der Kurswechsel der großen internationalen Institutionen (IWF, WHO, Weltbank usw.) hin zu stärkerer Marktöffnung – dem sich auch die einzelnen Mitgliedsländer anschlossen –als "endogen" angesehen werden (denn er reflektierte und institutionalisierte nur den bereits vorhandenen marktwirtschaftlichen Trend), nicht aber als "exogen", wie die reformistische Linke behauptet.

Wie ich in meinem Buch Umfassende Demokratie aufgezeigt habe, konnte ein System selbstregulierter Märkte im 19. Jahrhundert nur auf der Grundlage staatlich geförderter nationaler Märkte entstehen. War dies aber einmal eingetreten, so erzeugte das System seine eigene irreversible Dynamik und damit die heutige internationalisierte Marktwirtschaft. Insofern setzt sich der UD-Ansatz deutlich von Polanyi ab, dem er ansonsten durchaus verpflichtet ist. Er glaubt eben nicht wie Polanyi, dass die Sozialdemokratie die allgemeine Vermarktwirtschaftlichung noch aufhalten kann, und folgt auch nicht neueren sozialdemokratischen Vorstellungen wie etwa denen von Gray, der – ebenfalls unter Berufung auf Polanyi – in der Öffnung der Märkte nur eine Auswirkung der derzeit tonangebenden neoliberalen Ideologie auf die Wirtschaftspolitik sieht.

Aus Sicht der Umfassenden Demokratie ist die neoliberale internationalisierte Marktwirtschaft in erster Linie auf diese Dynamik zurückzuführen, also weder auf irgendwelche Verschwörungen noch auf bösartige neoliberale oder verkommene sozialdemokratische Parteien, wie die Reformlinken meinen. Nein, in ihr vollendet sich jener Prozess der Vermarktwirtschaftlichung, der gegen das kurze etatistische Interregnum (zwischen den 30er und 70ern des 20. Jahrhunderts) schon deswegen die Oberhand behielt, weil jede Art staatlicher Marktinterventionen der parallel dazu ablaufenden Internationalisierung zuwider lief. Politisch bedeutete diese einschneidende Entwicklung das Ende des sozialdemokratischen Konsenses der ersten Nachkriegsjahre. Dieser Konsens vereinte Sozialdemokraten und Konservative in der Überzeugung, der Staat müsse durch aktive Interventionen so auf die Wirtschaft einwirken, dass die diversen sozialdemokratischen Ziele wie Vollbeschäftigung, Wohlfahrtsstaat, Umverteilung usw. möglichst gut erreicht würden. Auf diese etatistische Phase folgte die bis heute andauernde neoliberale Phase, d.h. der neoliberale Konsens, dem die Regierungen von Mitte-Links bis Mitte-Rechts verpflichtet sind.

Die neoliberale Phase der Globalisierung

Die transnationale Wirtschaftselite, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat und heute die internationalisierte Marktwirtschaft kontrolliert, hat von jeher nach einer Maximierung der Rolle des Marktes und einer Minimierung der Mechanismen zum Schutz der Arbeiterschaft und der Umwelt gestrebt, um so maximale Profitabilität und ‚Effizienz‘ (im engen technisch-wirtschaftlichen Sinn) zu garantieren. Klar, nicht sämtliche sozialen Marktkontrollen sollten damit abgeschafft werden. Einige, wie etwa Regulierungen, sind für ein effizientes Funktionieren der Märkte durchaus erforderlich, während andere (z.B. eine minimale soziale Absicherung der ärmsten Bevölkerungsschichten) für die Reproduktion der Arbeiterschaft und zur Verhinderung sozialer Unruhen gebraucht werden.Sodann die ökologische Frage: Die transnationalen Wirtschaftseliten haben natürlich deren Brisanz erkannt, möchten aber keinesfalls diejenigen unter ihnen vergrämen, die wie etwa die Erdölindustrie von der Umweltzerstörung leben. Also suchen sie nach Kompromissen von der Art der Strategien ‚nachhaltiger Entwicklung‘, wie sie von grünen Politikern und befreundeten Organisationen (Greenpeace, Freunde der Erde usw.) - unter direkter oder indirekter finanzieller Förderung durch die Multis – propagiert werden. Dabei liegt doch auf der Hand, dass in einer internationalisierten Marktwirtschaft eine ‚nachhaltige Entwicklung‘ einen Widerspruch in sich darstellt. Aktuelles Beispiel ist die Weigerung der Bush-Regierung, dem Kyoto-Vertrag beizutreten, und zwar auf Einspruch der Erdölindustrie, mit deren finanzieller Hilfe Bush die Präsidentenwahl gewonnen hatte. Die Vorschläge des Kyoto-Vertrages sind ja äußerst vorsichtig und reichen sowieso bei weitem nicht aus, doch in ihrer Summe schaden sie der Erdölindustrie, dienen jedoch den Interessen der Elite anderer Branchen (etwa der Versicherungs- und der Landwirtschaft sowie der Tourismusindustrie, die aus nahe liegenden Gründen über den Treibhauseffekt besorgt sind). Umweltgefahr hin oder her - dieses Ungleichgewicht wollte die Bush-Regierung jedenfalls wieder austarieren.

Die heutige neoliberale Moderne stellt also eigentlich eine Synthese dar zwischen der altliberalen und der etatistischen Variante, bei der das liberalisierte und selbstregulierte Marktgeschehen so in ein System staatlicher Kontrollmechanismen eingebettet ist, dass Menschen und Umwelt wenigstens minimal geschützt bleiben. Der Staat spielt im Hinblick auf die Märkte heute eine völlig andere Rolle als - während der liberalen Phase – die eines Nachtwächters oder – während der etatistischen Phase – die eines gesellschaftlichen Schutzengels. Heute muss der Staat einerseits mit den Märkten die ‚Angebotsseite‘ der Wirtschaft (Konkurrenzfähigkeit und "Effizienz", also die Profite) stärken und andererseits die Kontrolle über die marginalisierten Bevölkerungsschichten dadurch gewährleisten, dass er für deren Überleben sorgt. Dass er dadurch naturgemäß erheblich an ökonomischer Souveränität eingebüßt hat, sieht man schon an dem Entstehen der riesigen Wirtschaftsblöcke, deren supranationale Institutionen die wirtschaftliche Rolle des Nationalstaates zunehmend erodieren.

Dies gilt vor allem für die EU, denn hier hat besagter Prozess bereits eingesetzt. Nicht nur der Warenmarkt, sondern auch Arbeits- und Kapitalmärkte sind vollständig liberalisiert, und so entsteht ein ausgedehntes Wirtschaftsgebiet mit festen Währungsparitäten, ganz wie unter dem Goldstandard der ersten Internationalisierungsphase. Dieser neue Standard, in dem der Euro die Rolle des Goldes übernimmt, dürfte viel bessere Erfolgschancen haben als sein Vorgänger, sind doch die Ursachen für dessen Versagen beseitigt – nämlich die Beschränkungen, denen man damals Waren-, Kapital- und Arbeitsmärkte unterworfen hatte, nicht nur im Interesse der nationalen Wirtschaftseliten, sondern auch zum Selbstschutz der Gesellschaft gegen ihre Vermarktwirtschaftlichung. In der neoliberalen Aufhebung dieser Schranken liegt also eine historische Chance dafür, dass der Vermarktwirtschaftlichungsprozess sich vollenden kann und die neoliberale Internationalisierung von mehr Erfolg gekrönt sein wird als ihre altliberale Vorläuferin.

Politisch waren die Voraussetzungen für die Vollendung dieses Prozesses gegeben, als im Osten der ‚real existierende Sozialismus‘ zusammengebrochen und im Westen die Sozialdemokratie gescheitert war. Heute stehen nicht nur Mitte-Links- wie Mitte-Rechts-Parteien, gleich ob an der Regierung oder nicht, hinter der einen oder anderen Variante des Neoliberalismus, sondern dieser durchdringt auch die Strategien jener internationalen Organisationen, mit deren Hilfe die transnationalen Eliten die Weltwirtschaft beherrschen (IWF, Weltbank, WHO, EU, Nafta, usw.). So wird unmisssverständlich klar, dass dieser neue Konsens den aus der internationalisierten Marktwirtschaft resultierenden radikalen Strukturwandels perfekt repräsentiert.

Es kommt nicht darauf an, ob die jetzige liberale Wirtschaftsordnung offener und integrierter ist als die frühere, sondern ob ihre Erfolgsaussichten bei der Schaffung einer selbstregulierten internationalisierten Marktwirtschaft besser sind als bei der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ich selbst bin hiervon überzeugt, weil nämlich heute erstmalig die vier Systeme vorhanden sind, auf die nach Polanyi jedes auf selbstregulierten Märkten aufgebaute Gesellschaftssystem angewiesen ist. Es sind dies:


• ein selbstregulierter Markt (d.h. die ‚Marktwirtschaft‘): Ist heute weiter als je zuvor entwickelt angesichts der Freiheit der Waren- und Kapitalmärkte, des allgemeinen Rückzugs des Etatismus und der Flexibilisierung auch des Arbeitsmarktes;
• ein liberaler Staat (d.h. eine Repräsentative ‚Demokratie‘): Ist untrennbar mit dem selbstregulierten Markt verknüpft und heute allgegenwärtig;
• ein System des Machtgleichgewichts: Ist nach dem Zusammenbruch des ‚real existierenden Sozialismus‘ und der Internationalisierung der Märkte in Form der Neuen Weltordnung gegeben, als notwendiges Gegenstück zu der durch die internationalisierte Marktwirtschaft verkörperten Neuen Wirtschaftsordnung;
• das neue Weltwährungssystem: Ergibt sich aus der Einführung des Euro und aus den in Nord- und Südamerika vorangetriebenen Ansätzen zur Schaffung eines panamerikanischen Dollars. Vieles spricht dafür, dass dieser Trend an Fahrt gewinnen und letztlich in feste Paritäten zwischen den drei großen Währungsblöcken Euro, Dollar und Yen münden wird. Enden dürfte das Ganze in einer neuen Weltwährung, d.h. in einem erdumspannenden Währungssystem als Garant eines stabilen Finanzrahmens für den aus der Globalisierung erwachsenen vernetzten Wirtschaftsraum.

Eine neue Demokratische Weltordnung

Ich halte das Projekt der Umfassenden Demokratie für einen sinnvollen und realistischen Ausweg aus der gegenwärtigen multidimensionalen Krise, weil es die Möglichkeit eröffnet, eine neue Globalisierung einzuleiten und eine Neue Weltordnung auf wahrhaft demokratischer Grundlage zu errichten. Dabei gehe ich davon aus, dass die Ursache dieser ökonomischen, ökologischen, politischen, sozialen und kulturellen Krise, in der sich die Welt am Anbruch des neuen Jahrtausends befindet, in der Konzentration der Macht in den Händen einer kleinen Elite zu suchen ist und dass nichts anderes als die sich über Jahrhunderte erstreckende Herausbildung von Marktwirtschaft, repräsentativer Demokratie und verwandten hierarchischen Strukturen zu dieser Konzentration führte. Folgen wir dieser Prämisse, dann erscheint die Umfassende Demokratie mit ihrer ausgeglichenen Machtverteilung auf allen Ebenen nicht mehr als unrealistische Utopie, sondern als der vielleicht letzte Ausweg aus der Krise unserer Zeit.

Eine Neue Weltordnung in Form der Umfassenden Demokratie ist dasjenige Gesellschaftssystem, das Wirtschaft, Politik und Umwelt wieder zusammenführt, indem die notwendigen Voraussetzungen für eine ausgeglichene Machtverteilung institutionell abgesichert werden. Die hierfür zu schaffenden Institutionen betreffen:

• die Politische Demokratie: Diese beruht als Direkte Demokratie einerseits auf Prozessen, welche sicherstellen, dass alle politischen Entscheidungen einschließlich der Legislative und Exekutive kollektiv und ohne Stellvertretung von der Gesamtheit der Bürger (dem demos) getroffen werden, andererseits auf institutionellen Strukturen für eine ausgeglichene Machtverteilung.
• die Wirtschaftsdemokratie: Hierbei kontrolliert der demos alle Wirtschaftsprozesse. Die Institutionen sichern das Eigentum und Kontrollrecht des Volkes über die Produktions- und Distributionsmittel und gehen insofern über die herkömmliche Marktwirtschaft und die staatliche Planung hinaus.
• die Soziale Demokratie: Alle Gebilde des öffentlichen Lebens, die kollektiven Entscheidungen unterliegen (Arbeits- und Bildungsstätten, kulturelle Institutionen usw.) sind – unter Aufsicht durch die demoi – selbstverwaltet. Privatbeziehungen hingegen folgen einem Wertesystem, das mit den demokratischen Institutionen der Gesellschaft kompatibel ist, i.a.W. das persönliche und gesellschaftliche Autonomie und Solidarität anerkennt und jegliche Herrschaftstendenzen ausschließt, sie mögen rassisch, sexuell, ethnisch, kulturell oder sonstwie begründet sein.
• die Ökologische Demokratie: Der institutionelle Rahmen sorgt im Verein mit dem Wertesystem dafür, dass Gesellschaft und Natur wieder miteinander versöhnt werden.

Um eine Neue Weltordnung auf der Grundlage der Umfassenden Demokratie aufzubauen, müssen UD-Föderationen auf allen Ebenen gebildet werden – regional, national, kontinental, schließlich weltumspannend. Auch dies wird zu einer Globalisierung führen, aber nicht wie bislang auf der Grundlage von Machtungleichgewicht und Herrschaft über Mensch und Natur, sondern bei Gleichberechtigung aller autonomen Individuen und unter Aufhebung aller Herrschaftsverhältnisse. Das Wirtschaftssystem wird ein nachhaltiges sein. Die Grundbedürfnisse der gesamten Erdbevölkerung werden gedeckt, indem die Ressourcen unter den einzelnen Föderationen nach Maßgabe eines weltweiten Planes aufgeteilt werden. Die Befriedigung weiter gehender Bedürfnisse erfolgt auf lokaler Ebene und unter Wahrung der Wahlfreiheit. Für den Austausch von Überschüssen unter den Föderationen werden multilaterale Verträge geschlossen.


Langfriststrategie für eine demokratische Globalisierung

Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus fehlt uns heute die Vision einer realistischen gesellschaftlichen Alternative. Das UD-Projekt bietet nicht nur diese Vision, sondern darüber hinaus eine Langfriststrategie und ein Kurzfristprogramm, die den Weg zu dieser neuen Gesellschaftsordnung weisen. Denn was den Systemwechsel betrifft, so sind die Aktivitäten der heutigen Antiglobalisierungbewegung als Übergangsstrategien chancenlos, solange sie nicht Bestandteil einer programmatisch-politischen Massenbewegung werden. Bestenfalls können sie sich zu einer Art ‚Widerstandsbewegung‘ gegen die Globalisierung entwickeln und einige– leicht rückgängig zu machende - Reformen herbeiführen. Den Systemwechsel selbst werden sie jedoch niemals schaffen, denn ohne die konkrete Vision einer künftigen Gesellschaft, ohne eine klare Strategie und ein Kurzfristprogramm für den Weg dahin können sie nicht einmal den dazu unentbehrlichen systemsprengenden Bewusstseinswandel erzeugen. Wer das System wirklich überwinden will, erreicht dies nur mit einem politischen Programm, das Vision, Strategie und Kurzfristtaktik umfasst.

Zur Strategie der Umfassenden Demokratie gehört der Aufbau einer machtvollen Bewegung für ein politisches Programm mit dem unverhüllten Anspruch, hier und jetzt die gesamte Gesellschaft zu einer wirklich demokratischen umzubauen. Ausdrücklich muss also – parallel zum Wertewandel - auch der Systemwechsel angestrebt werden. Zu diesem Zweck müssen mehr und mehr Menschen an die neue Politik herangeführt werden, während gleichzeitig ökonomische
Ressourcen wie Arbeit, Kapital und Boden dem Markt entzogen werden. Hierdurch sind Institutionen und Wertesystem so zu verändern, dass die neuen Institutionen die unvermeidlichen Konflikte mit der Staatsmacht bestehen und am Ende die Umfassende Demokratie und das neue demokratische Paradigma an die Stelle von Marktwirtschaft und repräsentativer Demokratie samt ihrem gesellschaftlichen Begründungsparadigma treten können.

Warum diese Strategie? Zu einem Systemwechsel gehört ein – kultureller wie institutioneller – Bruch mit der Vergangenheit, und der setzt zwingend einer neue politische Organisation und ein umfassendes politisches Programm für den Systemwechsel voraus. Das systemkritische Bewusstsein muss nämlich ein Massenphänomen werden; eine Beschränkung auf die Avantgarde (wie bei den Staatssozialisten) oder auf Wohnbezirke und Kommunen (wie bei den libertären Grüppchen) reicht nicht aus. Bevor die Umfassende Demokratie Wirklichkeit werden kann, muss erst die neue Kultur sich durchgesetzt haben, und dazu müssen neue politische und ökonomische Institutionen die Gesellschaft sichtbar prägen. Ohne den praktischen Aufbau derartiger Institutionen ist eine politische Bewegung für ein neues Massenbewusstsein nicht denkbar.

Unter der UD-Strategie müssen demnach - und zwar von unten nach oben - "Stützpunkte wirtschaftlicher und politischer Machtausübung durch das Volk" errichtet werden, örtliche Umfassende Demokratien, die sich anschließend nach und nach zu einer föderalen Umfassenden Demokratie vernetzen. Entscheidend ist: Sobald irgendwo Menschen in nennenswerter Anzahl eine Basis für "Demokratie in Aktion" errichtet haben, müssen sie sich an den Aufbau der politischen und ökonomischen UD-Institutionen machen. Ein guter Weg, wenn auch nicht der einzige, wäre es, mit einem Programm für die Umfassende Demokratie Kommunalwahlen zu gewinnen, weil sich dann die Gesellschaft - wenigstens lokal – durchgreifend verändern lässt.

Abriss eines Kurzfrist-Programms

Kurzfristig müssen neue politische Organisationsformen geschaffen werden, in denen sich die gewünschten Gesellschaftsstrukturen widerspiegeln. Also nichts von der Art der üblichen politischen Parteien, sondern so etwas wie "Demokratie in Aktion", von der nicht nur politische Initiativen ausgehen, sondern auch solche auf dem Gebiet der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Ökologie und der Kultur. Im einzelnen:

• Politisch durch die Errichtung von "Schatteninstitutionen" für Direkte Demokratie (Bürgerversammlungen usw.) sowie durch direkte Aktionen (Demos, Massenversammlungen, Teach-ins, Ziviler Ungehorsam).
• Ökonomisch durch die Gründung "demotischer" Produktions- und Konsumeinheiten. Das sind Wirtschaftsbetriebe, die, zunächst von Bürgern privat finanziert, diesen kollektiv gehören und von ihnen und den Betriebsangehörigen kontrolliert werden. Ist die örtliche Mehrheit einmal errungen, können auch Kommunalsteuern dafür eingesetzt werden.
• Sozial durch die Einführung der Selbstverwaltung am Arbeitsplatz, in den Schulen usw. sowie generell durch den Kampf für demokratische Verhältnisse in diesen Bereichen.
• Ökologisch durch Sicherstellung umweltfreundlicher Verhältnisse in Produktion und Konsum sowie durch direkte Aktionen gegen anhaltende Naturzerstörung (von Seiten der Konzerne).
• Kulturell durch Einflussnahme der Gemeinschaft auf Kunst und Medien sowie durch die Gründung von Alternativmedien, um so dem mit der Umfassenden Demokratie harmonisierenden Wertesystem zur Vorherrschaft zu verhelfen.

Heute sind die Menschen noch von jeder Art Machtausübung entwöhnt, vor allem politisch und ökonomisch. Dann jedoch werden sie sich geradezu zur Mitwirkung an einer derartigen Bewegung gedrängt fühlen, d.h. sie werden mit ihrer Stimmabgabe ihrer örtlichen ‚Demokratie in Aktion‘ zum Leben verhelfen.

Ihnen wird klar sein, dass Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit usw. sich nur durch eine institutionalisierte Umfassende Demokratie lösen lassen (in der also Unternehmen, gesellschaftliche Dienste usw. vom Volk beherrscht werden), und sie können diese Umfassende Demokratie auf den Weg bringen, sobald sie in ausreichender Stärke die lokale Basis für ihre ‚Demokratie in Aktion’ errichtet haben. Sie wissen auch, dass sie gegen die Verseuchung von Wasser, Luft und Nahrung einen durchschlagenden Erfolg nur erringen können, indem sie die örtliche Macht im Rahmen der Umfassenden Demokratie übernehmen, also in ihren Kommunen handeln, sich aber von der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Arena fern halten. Sie wissen schließlich, dass sie nur dann Herren ihres eigenen Lebens sein werden, wenn sie zuerst die lokale Macht erobern und sich dann regional föderieren. Das heißt, die Menschen werden sich für die Umfassende Demokratie engagieren, aber nicht weil sie sich nach einem abstrakten Demokratie-Ideal sehnen, sondern weil sie durch ihr eigenes Tun erkennen , dass die Ursache all ihrer ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme in der Konzentration der Macht auf so wenige zu suchen ist.

Ich möchte mit der Feststellung schließen, dass die Menschheit im neuen Jahrtausend vor einer lebensentscheidenden Wahl steht. Entweder wir verharren in unserer bisherigen Lebensweise und bei den Institutionen zur Sicherung und Ausweitung der riesigen Machtkonzentration auf allen Ebenen und nehmen damit die sich verschärfende multidimensionale Krise in Kauf. Oder wir machen uns an den Aufbau einer neuen politischen Bewegung zur Errichtung der Institutionen für eine nachhaltige Umfassende Demokratie und initiieren dadurch einen Prozess, in dessen Verlauf erstmalig in der Geschichte eine neue und wahrhaft demokratische Weltordnung möglich wird.
 


Literatur
Takis Fotopoulos, Umfassende Demokratie, Grafenau 2003
Gray, False Dawn

Übersetzt von Helmut Richter