Schwarzer Faden, Nr. 71 (Januar 2001)


Was bedeutet "Integrative" Demokratie?

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TAKIS FOTOPOULOS

 

Zur Person: Takis Fotopoulos lehrte jahrelang politische Ökonomie und ist heute der Herausgeber der englischsprachigen Buchzeitschrift Democracy and Nature, die dreimal jährlich mit theoretischen Beiträgen erscheint. Im Untertitel trägt die Zeitschrift den Titel »International Journal of Integrative Demokratie«. Da der Begriff inclusiv im Deutschen nicht genau das ausdrückt, was Takis mit seinem Konzept meint, haben wir uns in der deutschen Fassung für den Begriff »integrativ« entschieden.

Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus Takis Buch »Wege zu einer integrativen Demokratie«, das im Mai 2001 als erste Neuerscheinung in der dann neugegründeten Trotzdem-Verlagsgenossenschaft veröffentlicht werden soll.

Im ersten Teil des Buches wird die Entstehung des Marktwirtschaftssystems und des Nationalstaats diskutiert und es wird der Prozeß untersucht, der von der liberalen Phase der Marktwirtschaft zur gegenwärtigen neoliberalen Phase geführt hat. Als nächstes wird zu zeigen versucht, dass der Aufstieg der Wachstumswirtschaft in diesem Jahrhundert in beiden Versionen, der kapitalistischen und der »sozialistischen« trotz verschiedener Ursachen zu einem gemeinsamen Ergebnis führte.

Der zweite Teil des Buches entwickelt die neue Konzeption einer integrativen Demokratie und vergleicht sie mit den historischen Konzepten von Demokratie (klassischer, liberaler, marxistischer) genauso wie mit den verschiedenen Versionen »radikaler« Demokratie wie sie derzeit wieder in Mode kommen. Diesem folgt ein Modellentwurf einer konföderativen integrativen Demokratie im allgemeinen und einer wirtschaftlichen Demokratie im speziellen, der zeigt, dass ein System machbar ist, das die Ineffizienz sowohl der marxistischen Planwirtschaft wie der kapitalistischen Marktwirtschaft menschliche Bedürfnisse sinnvoll abzudecken, überwindet.

Dieser Teil des Buches endet mit einer Diskussion transnationaler politischer und wirtschaftlicher Strategien in Richtung auf eine integrative Demokratie auf der Grundlage eines demokratischen Rationalismus und libertärer Traditionen.

Der folgende Vorabdruck aus dem Buch soll Takis' Konzept vorstellen und schließt an unsere Debatten um Soziale Ökologie / Libertären Kommunalismus an.

Wolfgang Haug



Eine Politik neuer Art

Die beschleunigte Globalisierung der Marktwirtschaft geht mit einem stetigen Niedergang der repräsentativen »Demokratie« einher, und damit ist die Politik alter Art dem Untergang geweiht. In dem Maße, wie der Staat sich zu einer wirksamen Kontrolle der Marktkräfte unfähig zeigt, also den fundamentalen Problemen von Armut, riesiger Arbeitslosigkeit, wachsender Eigentumskonzentration und gravierender Umweltzerstörung hilflos gegenüber steht, verfallen vor allem die Unterschichten und Randgruppen in Zynismus und politische Apathie. Und so werben jetzt sämtliche Parteien um die Stimmen der »Drittelgesellschaft«, also derjenigen ca. 40 Prozent, die das politische Leben letztlich bestimmen.

Ebenso chancenlos sind aber auch Träume von einer Demokratisierung der Zivilgesellschaft, wie sie manche »Linke« noch am Kaminfeuer hegen mögen. Auf die Globalisierung der Marktwirtschaft folgt unausweichlich die Globalisierung der Zivilgesellschaft - will sagen, wenn es um die Grenzwerte einer gesellschaftlichen und ökologischen Kontrolle der Märkte geht, erzwingt die Konkurrenz den kleinsten gemeinsamen Nenner. Also wird die Zivilgesellschaft vorzugsweise jene Züge annehmen, die zur Marktorientierung der konkurrenzfähigsten Zweige der Marktwirtschaft passen.


Die Lebensstil-Strategien - eine Sackgasse

Wenn wir einmal von den Ansätzen absehen, die beim gesellschaftlichen Wandel den existierenden institutionellen Rahmen von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie ohnehin unangetastet lassen wollen - also etwa den diversen »zivilgesellschaftlichen« Varianten - dann stellen die Lebensstil-Strategie und die Strategie des föderalen Kommunalismus die wesentlichen Strömungen für eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft dar.

Die Lebensstil-Strategie tritt in verschiedenen Versionen auf, die jedoch alle darin übereinstimmen, dass sie sich keinesfalls in politische Prozesse, ja meist nicht einmal in gesellschaftliche Vorgänge überhaupt einmischen wollen. Kollektive Kämpfe der Arbeiterschaft, der Arbeitslosen oder anderer gesellschaftlicher Gruppen interessieren sie nicht - höchstens Grünen-spezifische Aktionen, etwa beim Tierschutz.

Da haben wir zunächst den Ansatz der Tiefenökologen selbst sowie diejenigen Libertären, die eine Kreuzung zwischen Tiefen- und Sozialökologie züchten wollen - so in England Peter Marshalls »Libertäre Ökologie« oder in den USA John Clarks »Öko-Kommunitarismus«. Man sucht nicht die politische oder gesellschaftliche Auseinandersetzung, sondern möchte - ausgehend vom Einzelnen und seinen Affinitätsgruppen - Beispiele für einen gesunden, vertretbaren Lebensstil auf unterster gesellschaftlicher Ebene setzen, als da wären: Gemeinwirtschaftliche Entwicklungen, »befreite Gebiete«, alternative Einrichtungen (freie Schulen, selbstverwaltete Betriebe, Wohngenossenschaften und Kommunen, Tauschringe usw.)[1]

Man hat dieses Vorgehen als individualistisch kritisiert; darüber hinaus ist es aber auch völlig wirkungslos, wenn es um den radikalen gesellschaftlichen Wandel geht. Es mag ja für das Entstehen einer alternativen Kultur innerhalb kleiner Bevölkerungsgruppen ganz hilfreich sein und auch die Kampfmoral der Aktiven stärken, die den Wandel unmittelbar erleben möchten. Doch angesichts der gewaltigen Machtkonzentrationen in unserer Zeit besteht nicht die geringste Chance, dass daraus die für radikale gesellschaftliche Veränderungen erforderlichen demokratischen Mehrheiten erwachsen könnten. Die entsprechenden Projekte werden entweder ausgegrenzt oder von den existierenden Machtstrukturen absorbiert (Beispiele dafür gibt es zahlreich); ihr Einfluss auf die Sozialisationsprozesse ist hingegen bestenfalls minimal. Außerdem stellen die Lebensstil-Strategien als Ein-Punkt-Bewegungen (Tierschutz usw.) ohne gesellschaftliche Transformationsziele ideale Zielscheiben für die Teile-und-Herrsche-Taktik der Führungseliten dar. So stützt sich etwa die britische Regierung bei der Unterdrückung grüner Protestaktionen gern auf private Sicherheitsdienste und deren Unterschicht-Personal und setzt reguläre Polizeikräfte nur als letztes Mittel ein. Auf diese Weise verschleiert man die repressive Natur des Staates und zwingt statt dessen den Aktivisten der Grünen einen Kampf gegen - als »Sicherheitsdienst« verkleidete - Arbeitslose und andere Randgruppen auf.[2]

In eine andere Richtung zielt ein Lebensstil-Vorschlag von Ted Trainer[3]: Auf den ersten Blick scheint er zwar eine Kritik an der Lebensstil-Strategie zu beinhalten, doch zielt auch er nicht auf politische, sondern auf individuelle Handlungsweisen ab. Wenn nur genügend viele Menschen lernen, ihren Lebensstil individuell zu verändern, dann, so Trainer, »verhungert der Kapitalismus«: Wenn sich nun immer mehr Menschen auf der rechten Fahrspur einrichten, wo sie bei sparsamem Konsum zufrieden leben können, hat der Kapitalismus schon verloren. Fürchtet er nichts so sehr wie Absatzrückgänge. Mir aber kann niemand mehr Modekleidung oder Sportwagen verkaufen. Wir müssen es also für die Menschen nur zunehmend bequem und attraktiv machen, ressourcenschonend zu leben, und der Kapitalismus wird verhungern.[4]

Nun lässt sich aber gesellschaftlicher Wandel niemals außerhalb der politischen und gesellschaftlichen Handlungsfelder herbeiführen. Unsere Machtstrukturen und -beziehungen können weder durch »gute Beispiele« noch durch Schulung oder Überredung überwunden werden. Wer Macht zerstören will, benötigt selbst eine Machtbasis. Strebt man aber eine solche Machtbasis an und will dabei die Prinzipien eines demokratischen Projekts nicht gefährden, so liegt m.E. der einzige Weg in einem umfassenden Programm für eine radikale Umgestaltung der lokalen politischen und ökonomischen Strukturen. Es ist die Strategie des föderalen Kommunalismus, die eine radikale Alternative zu den Lebensstil-Strategien eröffnet und gleichzeitig nahtlos auf das demokratische Projekt zugeschnitten ist. Denn ihr Ziel ist es, »die Stadtregierungen zu transformieren und zu demokratisieren, sie in Volksversammlungen zu verwurzeln und auf föderaler Basis umzugestalten, sowie eine föderal und kommunal orientierte Regionalwirtschaft aufzubauen«[5] - anders gesagt, »einen öffentlichen Raum -politisch im athenischen Sinn- zu schaffen, der zum Staat ein wachsendes Spannungsverhältnis entwickelt und am Ende in den alles entscheidenden Konflikt mit ihm eintritt« [6].

Zwar passen einige Teilschritte, wie sie die Lebensstil-Strategie propagiert, etwa die Kooperativen oder die lokalen Geldsysteme, durchaus zur Logik des föderalen Kommunalismus. Und doch besteht zwischen den beiden Ansätzen ein entscheidender Unterschied. Murray Bookchin hat es auf den Punkt gebracht: Spezifische Vorschläge in Richtung auf Dezentralisierung, Kleinräumigkeit, lokale Autonomie, Gegenseitigkeit oder kommunale Strukturen ... sind per se weder ökologisch noch emanzipatorisch. Ob sie es wirklich sind, hängt vielmehr vom gesellschaftlichen und philosophischen Kontext ab, in dem sie umgesetzt werden. [7]

Unter diesem, den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Strategien bestimmenden »Kontext« verstehe ich die Rolle des Individuums im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel. Die Lebensstil-Strategien sehen diesen Wandel vom Lebensstil der je Einzelnen ausgehen; er soll sich am Staat und der Marktwirtschaft vorbei vollziehen, anstatt diese direkt zu bekämpfen und durch neue gesellschaftliche Institutionen zu ersetzen. Die Strategie des föderalen Kommunalismus hingegen stellt die gesellschaftliche Rolle des Individuums heraus; hier beteiligt sich der Einzelne an lokalen politischen Auseinandersetzungen wie überhaupt an den Konflikten innerhalb der Gesellschaft. Er will den gesellschaftlichen Wandel nicht durch sein »gutes Beispiel« herbeiführen, sondern durch den Aufbau einer Föderation von Kommunen, die dem Staat so lange zusetzen, bis sie vollends seinen Platz eingenommen haben.[8] Man entgeht mit dieser Strategie nämlich nicht nur der Gefahr, ein Randphänomen zu bleiben (schließlich haben die Lebensstil-Bewegungen in 25 Jahren so gut wie keine dauerhaften Spuren in der Gesellschaft hinterlassen), sondern tappt auch nicht in die Falle einer »derart einseitigen Neigung zur individuellen Umstellung in Lebensstil und Wertesystem als dem politischen Königsweg zu durchgreifendem gesellschaftlichen Wandel, dass daraus geradezu eine Antihaltung gegenüber der bloßen Idee vom Kollektiv entsteht«[9] - wie es exemplarisch die New-Age-Bewegung vorgeführt hat. (... )

 

Strategie für den Übergang zu einer föderalen integrativen Demokratie

Wenn wir eine neue Gesellschaft aufbauen wollen, die nicht nur die Marktwirtschaft und den Nationalstaat, sondern auch die sich herausbildenden global-quasistaatlichen Organisationsformen hinter sich lässt, dann scheint mir der einzig realistische Weg dahin in einer politischen Strategie zu liegen, die nach und nach immer mehr Menschen in eine neuartige Politik einbindet und gleichzeitig der Marktwirtschaft die ökonomischen Ressourcen (Arbeit, Kapital, Boden) entwindet. Ziel dieser Strategie des Übergangs sollten Veränderungen in Institutionen und im Wertesystem sein, aus denen zunächst ein Konflikt zwischen dem Staat und den neuen Institutionen entsteht und die schließlich dazu führen, dass integrative Demokratie und ein neues demokratisches Paradigma an die Stelle von Marktwirtschaft und staatsorientierter Demokratie sowie des sie »rechtfertigenden« gesellschaftlichen Paradigmas treten.

Natürlich werden sich im Übergangsstadium Züge finden, die im gesellschaftlichen Endzustand nicht mehr auftreten - beispielsweise in der Wirtschaftsordnung. Während man im Übergang bei der Gestaltung der alternativen Institutionen und Werte, die die vorhandenen, hierarchisch strukturierten Verhältnisse ersetzen sollen, von der Existenz von Marktwirtschaft und Staats»Demokratie« ausgehen muss, wird es in der integrativen Demokratie keinen Staat, kein Geld, keinen Markt mehr geben. Wenn also ein bekannter Öko-Sozialist sich kritisch gegenüber einer frühen Version[10] dieser Vorschläge geäußert hat, so besteht dazu ersichtlich kein Anlass mehr. David Pepper verwechselt die vorgeschlagene Wirtschaftsdemokratie mit der Übergangsstrategie für den Weg dorthin, wenn er folgert: »Fotopoulos tritt offensichtlich für eine Geldwirtschaft ein, wie denn auch all dieses sich in den kapitalistischen Wirtschaftsvorstellungen des grünen mainstream wiederfindet.«[11]

Es stellt sich als die Frage: Mit was für einer Strategie sichern wir den Übergang zu einer integrativen Demokratie? Wie müssen wir im demokratischen Projekt vorgehen und uns politisch organisieren? Dies wiederum führt uns auf die Frage nach der Bedeutung der Aktivitäten und Auseinandersetzungen, jeweils in Bezug auf alle Komponenten der integrativen Demokratie, also ihrer Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Ökologie. Eine Leitlinie für diesen Übergang besteht darin, auf ein angemessenes Verhältnis zwischen Mittel und Zweck zu achten. So kann eine auf integrative Demokratie abzielende Strategie oligarchische Praktiken oder individualistische Handlungsweisen nicht enthalten.

Nehmen wir als erstes jene Kollektivaktionen, die aus dem Klassenkampf zwischen den Herrschaftseliten und den Opfern der globalisierten Marktwirtschaft erwachsen. Solche Kämpfe, die den repressiven Charakter von Staatsdemokratie und Marktwirtschaft beleuchten, sollten wir bedenkenlos unterstützen, dabei aber die systembedingten Ursachen dieser Konflikte verdeutlichen. Nur dürfen wir uns dabei keinesfalls auf die bürokratischen Köpfe von Gewerkschaften und anderen herkömmlichen Organisationen verlassen, sondern auf Arbeiterversammlungen, die - miteinander verbindet - in diese Auseinandersetzungen eingreifen und sich dabei als Teil einer breiten demokratischen Bewegung im Rahmen föderierter Gemeinschaften begreifen.

Sodann die Aktionen an der Basis: Bildungsmaßnahmen, direkte Aktionen, gemeinwirtschaftliche Projekte, selbstverwaltete Betriebe, Wohnprojekte, Tauschringe etc. Es leuchtet ein, dass man allein damit gesellschaftlichen Wandel nicht erzielen kann. Und doch ist einiges davon im Zuge einer umfassenden politischen Strategie gut und richtig. Solche Basisaktivitäten gipfeln in der Beteiligung an lokalen Wahlen, weil diese nicht nur das wirksamste Propagandaforum für das Programm der integrativen Demokratie darstellen, sondern Gelegenheit zur unmittelbaren, gesellschaftlich relevanten Umsetzung dieses Programms bieten.

Oder, anders gesagt: In der Teilnahme an Kommunalwahlen liegt nicht nur ein Element des Lernens, sondern es drückt sich darin die Überzeugung aus, dass heutzutage die direkte Wirtschaftsdemokratie nur auf der örtlichen Gemeindeebene in Gang gesetzt werden kann. Strategisches Ziel einer solchen Wahlbeteiligung kann also nur sein, im Gewinnen der Wahl die Macht zwar zu erringen, aber nur um sie am nächsten Tage dadurch zu neutralisieren, dass die Entscheidungsgewalt den örtlichen Machthabern entzogen und an die Volksversammlungen übertragen wird. In der Beteiligung an lokalen Wahlen liegt die Chance - die einzige demokratische -, die Gesellschaft von unten her zu verändern und nicht, wie der Staat es im Sinn hat, von oben. Wir müssen bei der Umgestaltung der Gesellschaft in der einzelnen Gemeinde beginnen, denn nur hier finden wir den sozialen und wirtschaftlichen Grundbaustein einer künftigen demokratischen Gesellschaft. Hingegen mit den Augen des Staates gesehen kann eine Gesellschaft nur von der Spitze her »demokratisiert« werden.

Andererseits steht die Teilnahme an Landtags-, Bundestags- oder Europa-Wahlen zwar voll im Einklang mit den Zielen von Staatsanhängern, keinesfalls aber mit denen, die für eine integrative Demokratie eintreten. Denn hier liegt die fundamentale Kluft zwischen lokalen Wahlen und Wahlen zu den übergeordneten Parlamenten: Die Ersteren sind sowohl mit dem Fernziel der integrative Demokratie vereinbar als auch geeignet, direkt zum Abbau von Machtstrukturen beizutragen; für die Letzteren gilt weder das eine noch das andere. Nun sieht Howard Hawkins[12] den Unterschied darin, dass nationale Wahlen nur dem Lernzweck dienen, während lokale Wahlen auch gewonnen werden können und dann den Weg für die Umsetzung des föderal-kommunalistischen Programms frei machen. Behält man jedoch das eben Gesagte im Auge, so erkennt man darin zwei Widersprüche. Zum einen ist das Endziel - die integrative Demokratie - nicht mit der Methode, dorthin zu gelangen, vereinbar; und dies kann zu Verwirrung über den wahren Charakter der Bewegung führen, wenn nicht zu Schlimmerem. Zum anderen ist mit einer Kandidatur für ein Staatsamt notwendigerweise die Akzeptanz der Logik eines anderen Gesellschaftssystems verbunden (»Ich bewerbe mich um dieses Amt, um dort eure Probleme zu lösen«). Sie steht also ihrer innersten Natur nach im Widerspruch zu der lehrenden Rolle, die ihr Hawkins zuweist (»Ich will das Amt, um das ich mich bewerbe, überhaupt nicht antreten«), und setzt somit die Kandidaten dem Risiko aus, als irrelevant angesehen und gar nicht erst ernst genommen zu werden.

In erster Linie muss also der bottomup-Aufbau von »politischen und ökonomischen Machtbasen des Volkes« angestrebt werden - also basisdemokratische und wirtschaftsdemokratische öffentliche Bereiche, die sich nach und nach zu Föderationen zusammenschließen und dadurch die Grundlagen für eine neue Gesellschaft schaffen. Ich halte dies für den realistischsten Ansatz, um nicht nur hier und jetzt unsere tiefgreifenden gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Probleme bewältigen zu können, sondern um gleichzeitig die gegebenen Machtstrukturen zu beseitigen. Mit einem politischen Programm zur Einrichtung von Institutionen einer integrativen Demokratie werden wir schließlich bei der Mehrzahl derjenigen Menschen auf Resonanz stoßen, die heute noch unter den Folgen der Machtkonzentration in Politik und Wirtschaft zu leiden haben:

Sie sind vom »öffentlichen« Bereich ausgeschlossen, da dieser von den Berufspolitikern monopolisiert wird

Sie haben kein Mitspracherecht dabei, wie ihre Bedürfnisse befriedigt werden sollen, denn das besorgt der Markt

Ihre Lebensqualität verschlechtert sich von Tag zu Tag, da die Marktdynamik sich notwendigerweise zu Lasten der Umwelt auswirkt.

Noch während die Institutionen einer integrativen Demokratie im Entstehen begriffen sind und die Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, wird nach und nach der Erosionsprozess einsetzen, der unsere derzeitigen Institutionen und gesellschaftlichen Paradigmen zum Verschwinden bringen wird, und dem Volk wird eine Machtbasis zuwachsen, Dorf für Dorf, Stadt für Stadt, Region für Region wird der Kontrolle durch die Marktwirtschaft und den Nationalstaat entzogen und in die föderale Struktur der demokratischen Kommunen einbezogen. Eine duale Macht entsteht in spannungsreicher Gegenposition zum Staat. Zwar werden natürlich die herrschenden Eliten und ihre Anhänger (ohnehin nicht gerade begeistert vom Verlust ihrer vormaligen Privilegien), nachdem sich die subtileren Mittel der Beeinflussung (Massenmedien, wirtschaftlicher Druck etc.) als wirkungslos erwiesen haben, wie stets in der Geschichte versuchen, diese Privilegien unter Einsatz physischer Gewalt zu verteidigen. Doch inzwischen wird das alternative gesellschaftliche Paradigma die Hegemonie angetreten haben, und in der Sozialisation der Menschen wird jener Bruch eingetreten sein, der die Vorbedingung für die institutionelle Errichtung der neuen Gesellschaft darstellt. Die heutige »Demokratie« wird ihre Legitimität verloren haben. In dieser Phase werden die Menschen in ihrer Mehrzahl zur Verteidigung der neuen politischen und ökonomischen Strukturen gegen die staatliche Gewalt bereit sein. Denn Bürgerinnen und Bürger, die erst einmal die echte Demokratie gekostet haben, werden sich auch durch noch so viel physischen oder ökonomischen Druck nicht davon »überzeugen« lassen, zu den pseudo-demokratischen Organisationsformen zurück zu kehren.

Organisation neuer Art

Wenn wir eine Strategie wie die zuvor geschilderte umsetzen wollen, benötigen wir eine neuartige politische Organisation, die ihrerseits ein Spiegelbild der angestrebten Gesellschaftsstruktur sein muss. Das wird nun nicht eine der herkömmlichen Parteien sein, sondern »Demokratie in Aktion«, und ihre Aktionen werden kollektiver Natur sein und sich auf die verschiedensten Bereiche erstrecken:

  • Politik (basisdemokratische »Schatteninstitutionen« wie Nachbarschaftsversammlungen etc.)

  • Wirtschaft (Produktions- und Distributionsbetriebe in Gemeineigentum, an der Gemeinde orientiert und von ihr kontrolliert)

  • soziale Beziehungen (Demokratie am Arbeitsplatz, im Haushalt etc.)

  • Kultur (Kunst und Medien unter Aufsicht durch die Gemeinde).

All dies ist jedoch kein Selbstzweck, sondern dient der durchgreifenden gesellschaftlichen Transformation jeder Kommune, in der die Wahl gewonnen wird, zur integrativen Demokratie. So könnten etwa die lokalen autonomen Gruppen, die in ihren jeweiligen Kommunen an der integrativen Demokratie arbeiten, Föderationen bilden, die sich über die Region, das Land, den Kontinent oder sogar über die ganze Erde erstrecken. Verbunden fühlen sich die Beteiligten nicht über ein geschlossenes philosophisches System, sondern allein über den gemeinsamen Willen, eine föderale integrative Demokratie zu errichten. Hier sind keine »Parteikader« am Werk, sondern die Katalysatoren für die Entstehung neuartiger Institutionen. Die Akteure sehen sich keiner politischen Organisation verpflichtet, sondern den demokratischen Institutionen selbst - oder in Bookchins Worten »nicht den politischen, sondern den gesellschaftlichen Formen«.[13]

Um die Demokratie aufzubauen, bedarf es eines langen Atems und breiter Unterstützung im Volk. Für Castoriades etwa kann dieser Aufbau nur »als Erfolg einer immensen, weltweiten Volksbewegung am Ende einer ganzen geschichtlichen Ära stehen. Denn diese Bewegung wird weit über alles hinausgehen, was wir unter dem Namen 'politische Bewegung' kennen. Sie muss alle derzeit vorherrschenden institutionellen Charakteristika, Normen und Werte in Frage stellen ... Sie wird eine tiefgreifende psychische und anthropologische Transformation darstellen und neue Lebensweisen auf allen Gebieten mit sich bringen.«[14]

Aus diesem Grunde muss die neuartige politische Organisation ein möglichst breites politisches Fundament besitzen - also ein breites Spektrum radikaler Bewegungen, wozu ich Radikalökologen, Radikalfeministinnen und Autonome ebenso zähle wie libertäre Sozialisten und Linke sowie alle anderen Strömungen des demokratischen Projekts.

Angesichts der breiten Anlage des Projekts einer integrativen Demokratie kann die neue Bewegung auf Unterstützung in praktisch allen Gesellschaftsschichten zählen - ausgenommen die Oberschicht und die herrschenden Eliten. Gerade die wirtschaftsdemokratischen Elemente werden ganz im Sinne der Opfer der globalisierten Marktwirtschaft sein, also jener benachteiligten 60-Prozent-Mehrheit, die sich nicht nur aus der Unterschicht und den Randgruppen - Arbeitslose, Gelegenheitsarbeiter, Teilzeitbeschäftige, Arbeiter und kleine Angestellten sowie an der Agrarindustrie gescheiterte Bauern - zusammensetzt, sondern auch diejenigen einschließt, die wie die Studenten ihren Traum von einer beruflich abgesicherten Mittelklassen-Existenz angesichts des zunehmend »flexiblen Arbeitsmarktes« schwinden sehen. Selbst jene gar nicht so seltenen Mitglieder der oberen 40 Prozent, die es nicht in die Oberklasse geschafft haben und in ständiger Unsicherheit leben müssen, werden sich angesprochen fühlen.

Aber wir haben ja nicht nur mit den Klassenproblemen einer undemokratischen Wirtschaftsordnung zu kämpfen, sondern auch mit den klassenübergreifenden Problemen der Unterdrückung auf sexueller, altersbezogener, ethnischer oder hierarchischer Basis sowie mit gewaltigen ökologischen Gefährdungen. Deshalb sollten wir beim Aufbau einer integrative Demokratie - also von Basisdemokratie, gesellschaftlicher Demokratie und ökologischer Demokratie nicht allein auf Unterstützung bei den Opfern der Marktwirtschaft zählen, sondern auf alle, die sich von der derzeitigen Staatsraison, genannt »Politik«, abgestoßen fühlen: Arbeiter unter den hierarchischen Arbeitsplatzstrukturen; Frauen unter den Hierarchien daheim und im Beruf; ethnische oder rassische Minderheiten unter der Diskriminierung durch die »Staatsdemokratie«; um nur einige zu nennen. Und nicht zuletzt die ökologische Komponente unseres Projekts muss allen aus dem Herzen sprechen, die sich um die Naturzerstörung und den Niedergang der Lebensqualität sorgen.

Die neue radikaldemokratische Bewegung auf breitester Grundlage würde nicht nur eine Synthese der bedeutendsten Bewegungen bilden, die im zu Ende gehenden Jahrhundert für einen gesellschaftlichen Wandel eingetreten sind, sondern würde über diese hinausführen. Die derzeitige vieldimensionale Krise können wir nur durch eine Bewegung überwinden, die ohne ideologische Voreingenommenheit, allein der integrativen Demokratie verpflichtet, der beschleunigt fortschreitenden Vernichtung natürlicher Ressourcen und menschlichen Lebens entgegentritt und hier und jetzt das Reich der Freiheit zu errichten verspricht.

Generalplan zur Transformation der Gesellschaft

Ein Generalplan für den gesellschaftlichen Wandel muss ausdrücklich das oberste Ziel definieren - die Reorganisation der Gesellschaft auf eine integrative Demokratie hin. Jedem muss klar werden, dass alle Projekte, von denen darin die Rede ist, letztlich darauf abzielen, die derzeitigen oligarchischen Strukturen durch solche der integrativen Demokratie zu ersetzen. Der Plan beschreibt also nicht irgend eine Politik neuen Typs, sondern er ist selbst die politische Struktur, die zur integrativen Demokratie führen soll und für die wir uns einsetzen. Genau deshalb habe ich ja oben betont, dass die mit diesem Kampf verbundenen politischen Aktivitäten sich ausschließlich auf kommunaler Ebene abspielen sollen. Hat sich erst einmal in vielen Gemeinden die neue politische Struktur herausgebildet, dann wird die Waage der Machtverteilung sich von Staat und Marktwirtschaft zu unseren Gunsten neigen, und für die Umgestaltung des Wirtschaftssystems werden die Voraussetzungen gegeben sein.

Demnach muss das Programm für den Übergang zu einer integrativen Demokratie auf dem Felde der Wirtschaft an den unmittelbaren Bedürfnissen der Menschen ansetzen, für die diese sich mobilisieren lassen:

(a) Es muss ein neues Bewusstsein für ein demokratisches Herangehen an unsere ökonomischen und ökologischen Probleme schaffen, indem es die Krise in Wirtschaft und Umwelt als systembedingt beschreibt und zu ihrer Behebung die Einführung der integrativen Demokratie mit der Selbstversorgung der Gemeinden propagiert.

(b) Es muss konkrete Entwürfe für die wirtschaftlichen Institutionen anbieten, die zu einer integrativen Demokratie führen sollen - Vorschläge, die auf größere wirtschaftliche Unabhängigkeit der Menschen abzielen sowie auf demokratische Entscheidungsverfahren im Wirtschaftsleben der Gemeinden.

Wenn es also (a) um das neue Bewusstsein geht, muss der Plan unmissverständlich Klarheit darüber schaffen, dass Armut, Arbeitslosigkeit, entfremdende Arbeit ebenso wie Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung und schlechte Lebensqualität sämtlich ihre Wurzeln in einem Wirtschaftssystem haben, das allein einigen nicht-repräsentativen Eliten die Macht sichert. Dabei sollte herausgestellt werden, welche Rolle die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen bei diesen Problemen spielen, weil etwa die Zuteilung der Ressourcen über den Markt zu Unterentwicklung, Arbeitslosigkeit und Armut führt das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht die Wirtschaftsdemokratie, sondern eine politische und ökonomische Oligarchie fördert, die überwiegende Mehrheit der Menschen ihrer Arbeit entfremdet und die Ungleichheit verewigt die hierarchische Organisation der Gesellschaft -sei es auf der Makro-Ebene (Staat) oder der Mikro-Ebene (Familie, Beruf, Schule)- mit Autonomie, Freiheit und einer demokratischen Gesellschaft ganz allgemein unvereinbar ist.

Geht es (b) um die Errichtung wirtschaftsdemokratischer ökonomischer Institutionen, so muss der Plan verdeutlichen, warum die Voraussetzungen für wirtschaftliche Verbesserungen geschaffen werden können, sobald eine radikaldemokratische Bewegung in mehreren Kommunen die Macht erobert hat. Die Gemeinde wird wesentlich unabhängiger von ökonomischen Zwängen in der Wirtschaft entsteht ein demokratischer Sektor, der also dem Volk selbst gehört. Für die Entscheidungsprozesse in diesem Sektor wie auch für die jedermann tangierenden Bereiche der lokalen Produktion, Steuern und öffentlichen Ausgaben wird ein demokratischer Mechanismus aufgebaut.

Aus dem Generalplan zur Transformation der Gesellschaft sollte also deutlich hervorgehen, dass die Bürgerinnen und Bürger erstmals über die Macht verfügen werden, in ihrer eigenen Gemeinde über ökonomische Fragen zu bestimmen. Jeder wird den Gegensatz zum heutigen Zustand spüren, wo die Bürger angeblich alle 4 oder 5 Jahre die Regierung und deren Steuerpolitik auswechseln dürfen, in Wirklichkeit aber weder eine echte Wahl haben noch bei den Berufspolitikern ihren Willen durchsetzen können. Man erkennt dies beispielsweise daran, dass die Wirtschaftsprogramme der großen Parteien so vage und allgemein formuliert sind, dass sie die Politiker konkret zu nichts verpflichten. Und über die Verwendung der aus Steuern und Kreditaufnahme stammenden Mittel durch den Staat darf die Bevölkerung schon gar nicht entscheiden.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Richter

Aus: Schwarzer Faden, Nr. 71, 1/2001


 

[1] siehe etwa David Pepper, Eco-Socialism: From Deep Ecology to Social Justice (London 1993) S 199

[2] Wie in England private Wachkräfte aus der Unterschicht angeworben wurden, um mit den Aktivisten der Grünen fertig zu werden«, die beim Bau der Umgehungsstraße von Newbury gegen den damit verbundenen Waldverlust protestierten, hat sehr anschaulich John Vidal in The Guardian vom 25.01.1996 beschrieben

[3] Ted Trainer, The Conserver Society: Alternatives for Sustainability (London 1995)

[4] Ted Trainer, The Conserver Society S.220

[5] Murray Bookchin, »Libertarian municipalism: an overwiew- in Society and Nature Bd.1 Nr.1 (1992) S.102

[6] Murray Bookchin, -Communalism: the democratic dimension of anarchism@, in Democracy and Nature Bd.3 Nr.2 (1996)

[7] Murray Bookchin, Dave Foreman, Defending the Earth: A Debate between Murray Bookchin and Dave Foreman, (Montreal 1991 ) S.61-62

[8] Murray Bookchin, -Libertarian municipalism: an overview S.102

[9] David Pepper, Eco-Socialism S.200

[10] Takis Fotopoulos, "The economic foundations of an ecological society« in Society and Nature Bd.1 Nr.3 (1993)

[11] David Pepper, Modern Environmentalism (London 1996) S.321

[12] Howard Hawkins, The Greens Bulletin (April 1992) S.27-30

[13] Murray Bookchin, Post-Scarcity Anarchism (London 1971 ) S.217

[14] Cornelius Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy (Oxford 1991) S.204