Schwarzer Faden, Nr. 72 (Februar 2001)
Über Marx und Proudhon hinaus
TAKIS FOTOPOULOS
Bekanntlich bezeichnete der Gegensatz zwischen Marx und Proudhon den Anfang der Spaltung zwischen dem etatistischen und dem libertären Sozialismus eine Spaltung, die ihren Höhepunkt in dem Streit zwischen Marx und Bakunin innerhalb der Ersten Internationale fand. Heute, fast ein und einhalb Jahrhunderte nach dieser Debatte, liegt das Sozialistische Projekt in Trümmern nach dem Zusammenbruch der beiden Ausdrucksformen des etatistischen Sozialismus (die Sozialismus-Version, die seit jener Zeit die sozialistische Bewegung beherrscht hat), nämlich des »real existierende Sozialismus« des Ostens und der Sozialdemokratie des Westens. Darüber hinaus hat der Zusammenbruch der etatistischen Version des Sozialismus nicht zu einer Wiederbelebung seiner libertären Version geführt.
Der gegenwärtige Misserfolg des libertären Sozialismus ist kein Zufall. Denn er hat etwas mit der Tatsache zu tun, dass bis heute nur wenige Libertäre (besonders Murray Bookchin) versucht haben, die libertäre Theorie insgesamt zu erneuern, und dass keiner von ihnen (mit der Ausnahme von Democracy & Nature) den Versuch unternommen hat, sie mit der Wirklichkeit der heutigen internationalisierten Marktwirtschaft in Einklang zu bringen. Statt dessen sind sie entweder bei den alten Debatten mit etatistischen Sozialisten stecken geblieben, oder haben sich verschiedenen Formen eines fernöstlichen Irrationalismus zugewandt - Taoismus, Zen usw.
Heute kann eine erneute Überprüfung der Marx-Proudhon-Debatte, wie sie insbesondere in den zwei »Misères« zum Ausdruck kommt, im Lichte des Zusammenbruches der sozialistischen Bewegung besonders nützlich sein. Eine genaue Analyse dieser Debatte wird zeigen, dass eine Wiederbelebung libertärer Theorie sowohl den etatistischen als auch den libertären Sozialismus transzendieren muss in einer Synthese der zwei historischen Haupttraditionen der sozialistischen und der demokratischen mit den radikalen Strömungen innerhalb der neuen gesellschaftlichen Bewegungen (grüne, feministische, autonomistische und ähnliche Bewegungen). Ich will im folgenden versuchen, diese Debatte in Verbindung mit Marx' und Proudhons jeweiligen Ansichten auf drei wesentlichen Gebieten von Unterschieden bzw. Ähnlichkeiten zwischen ihnen zu untersuchen: 1. Methodologie, 2. Marktwirtschaft und Wettbewerb, 3. Demokratie.
1. Über Marx' und Proudhons »Wissenschaften« hinaus
Weder Marx noch Proudhon hegten Zweifel an dem »wissenschaftlichen« Charakter ihrer eigenen Theorien. Das war natürlich zu erwarten, wenn man bedenkt, dass zu der Zeit, da sie ihre eigenen Befreiungsprojekte entwickelten, der »Szientismus«, d.h. der übertriebene Glaube an alles »wissenschaftliche«, seinen Höhepunkt erreicht hatte. So versuchte Marx auf der Grundlage von Veränderungen in der »ökonomischen Sphäre«, eine allgemein gültige Deutung der gesamten Menschheitsgeschichte zu liefern und die sozialistische Transformation der Gesellschaft historisch notwendig zu machen. Marx zweifelte nicht an dem »wissenschaftlichen« Charakter seiner ökonomischen Gesetze, die er als »eherne«, unvermeidliche Ergebnisse liefernde Gesetze ansah, oder aber an dem »objektiven« Charakter seiner ganzen Konzeption, die er einem naturgeschichtlichen Prozeß gleichsetzte. »Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. ... mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt ... « (1)
Ähnlich hegte Proudhon, der früher als Marx schrieb, keinerlei Zweifel an dem »wissenschaftlichen« und »objektiven« Charakter seiner Theorien. So legen etwa schon die Anfangssätze des ersten Kapitels seiner "Philosophie des Elends" Zeugnis seines Glaubens an die Wirtschaftswissenschaft ab: »ich behaupte die WIRKLICHKEIT einer Wissenschaft von der Wirtschaft.« Und weiter: »Ich behaupte andererseits die absolute Zuverlässigkeit sowie den fortschrittlichen Charakter der Wirtschaftswissenschaft, die meiner Meinung nach von allen Wissenschaften die umfassendste, die reinste und diejenige Wissenschaft ist, die am besten in Tatsachen umgesetzt ist. « (2)
Proudhon fährt mit der Versicherung fort, dass er die »politische Ökonomie« von Adam Smith, Ricardo, Malthus und J.-B. Say (d.h., was wir heute »orthodoxe Volkswirtschaftslehre« nennen würden) nicht als Wissenschaft ansieht; vielmehr betrachtet er sie als »Sammelsurium von Theorien« und charakterisiert sie treffend als »die organisierte Praxis des Diebstahls und des Elends«. Des weiteren lehnt er ab, was damals als sozialistische Volkswirtschaftslehre galt, indem er erklärt, dass sowohl die orthodoxe als auch die sozialistische Volkswirtschaftslehre »der Untreue gegenüber der Wissenschaft schuldig« sind, »da einerseits die politische Ökonomie ihre theoretischen Lappen für Wissenschaft ausgibt und die Möglichkeit weiteren Fortschritts leugnet und andererseits der Sozialismus der Überlieferung den Laufpass gibt und darauf abzielt, die Gesellschaft auf unauffindbaren Grundlagen neu zu errichten«. Und nachdem er zugegeben hat, dass sowohl die orthodoxe wie auch die sozialistische Volkswirtschaftslehre sich auf »eine gemeinsame Autorität« berufen, von der jede von ihnen behauptet unterstützt zu werden, nämlich die »WISSENSCHAFT«, verkündet Proudhon die Überlegenheit seiner eigenen »Wissenschaft« folgendermaßen: »Was schreibt nun in einer solchen Lage die Wissenschaft vor? »Sicherlich nicht, in einem willkürlichen, kaum faßbaren, unmöglichen Juste milieu stehen zu bleiben, sondern noch mehr zu verallgemeinern und ein drittes Prinzip zu entdecken, ein Faktum, ein höheres Gesetz, das die Fiktion des Kapitals und den Mythos des Eigentums erklärt und dieses Prinzip mit der Theorie vereinbart, die das Entstehen allen Reichtums der Arbeit zuschreibt. Das mußte der Sozialismus, wenn er logisch zu Werke gehen gewollt hätte, unternehmen. ... Es genügt, zu sagen, dass es eine Formel der Versöhnung geben muß, über sozialistischen Utopien und verkürzten Theorien der politischen Ökonomie stehend, und dass es darum geht, die zu entdecken.« (2)
In der gleichen Geisteshaltung sah Marx es als seine erste Aufgabe an, Proudhons »Wissenschaft« beiseite zu schieben. Und so steht denn auch im Mittelpunkt seiner gegen Proudhon gerichteten Kritik der unwissenschaftliche Charakter von dessen Theorie. So hebt er in einem Brief an J.B. Schweitzer hervor: »ich zeigte darin (sc. in Das Elend der Philosophie) u.a., wie wenig er in das Geheimnis der wissenschaftlichen Dialektik eingedrungen; ... und wie er mit den Utopisten auf eine sogenannte »Wissenschaft« Jagd macht, wodurch eine Formel für die »Lösung der sozialen Frage« a priori herausspintisiert werden soll, statt die Wissenschaft aus der kritischen Erkenntnis der geschichtlichen Bewegung zu schöpfen, einer Bewegung, die selbst die materiellen Bedingungen der Emanzipation produziere. ... (Wissenschaft reduziert sich für ihn auf die winzigen Proportionen einer wissenschaftlichen Formel; er ist ein Mann auf der Suche nach Formeln.« (3)
So ist also klar, dass Proudhon und Marx versuchten, sich auf objektive Theorien und Methoden zu stützen, um die Notwendigkeit einer alternativen Gesellschaft zu rechtfertigen. Das unausgesprochene Argument zugunsten eines solchen Zuganges beinhaltet, dass derartige Theorien und Methoden in der Tat »objektive Prozesse« widerspiegeln, die in der Gesellschaft bzw. in der natürlichen Welt wirksam sind. Wie ich jedoch an anderer Stelle (4) zu zeigen versucht habe, ist die Wahl einer »wissenschaftlichen« bzw. »objektivistischen« Methode zur Rechtfertigung einer alternativen Gesellschaft sowohl problematisch, als auch nicht wünschenswert.
Sie ist problematisch, weil nach der endgültigen Einführung des Ungewissheitsgrundsatzes und der Chaostheorie in die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts nur noch Wenige glauben, dass es noch immer möglich sei, »objektive« »Gesetze« oder »Tendenzen« des gesellschaftlichen Wandels herzuleiten. Wenn Ursache und Wirkung sogar in der Physik ungewiss sein können und der Bezug auf notwendige und allgemein gültige Gesetze sogar hinsichtlich der natürlichen Welt strittig ist, dann ist doch wohl klar, dass objektive Gesetze oder Tendenzen zu postulieren, die auf die Gesellschaft anwendbar seien, zumindest absurd ist.
Sie ist nicht wünschenswert, weil es eine ganz eindeutige Verbindung zwischen der »Verwissenschaftlichung« jenes Vorhabens in den Händen von Marxisten-Leninisten und der folgerichtigen Bürokratisierung sozialistischer Politik sowie der totalitären Transformation gesellschaftlicher Organisation gibt. Mit anderen Worten, es war genau die marxistische Verwandlung des sozialistischen Projekts in eine »objektive« Wissenschaft, die ganz wesentlich zur Errichtung neuer hierarchischer Strukturen in der sozialistischen Bewegung beigetragen hat. Die Grundlage dieser neuen hierarchischen Strukturen war die gesellschaftliche Teilung ,die zwischen der Avantgarde einerseits geschaffen wurde, die als einzige tatsächlich in der Lage war, die Bewegung zu führen, und den »Massen« andererseits. Und es ist ja eine wohlbekannte geschichtliche Tatsache, dass sowohl in den vorrevolutionären marxistischen Bewegungen, als auch in den nachrevolutionären Regierungen die Rechtfertigung der Konzentration von Macht in den Händen der Parteieliten auf der »Tatsache« gründete, dass sie allein »wussten«, wie die Geschichte auszulegen war und wie in geeigneter Weise gehandelt werden musste, um den historischen Prozeß zum Sozialismus zu beschleunigen.
Deshalb ist die Tatsache, dass Proudhon in seinem Briefwechsel mit Marx die Umwandlung des sozialistischen Projekts in eine neue Religion zurück zu weisen schien (»spielen wir uns nicht als Apostel einer neuen Religion auf; und wäre diese Religion auch die Religion der Logik, die Religion der Vernunft« (5) ), kein Zeichen dafür, dass, hätte der Anarchismus Proudhons anstelle des Marxschen Sozialismus die Bewegung beherrscht, die Schaffung neuer hierarchischer Strukturen vermieden worden wäre. Es sind ja nicht die Absichten von Marx, Proudhon u.a. als solche, die zu einer derartigen Entwicklung führen könnten, sondern die »Verwissenschaftlichung« bzw. »Objektivierung« des Befreiungsprojekts (von Marx zu Proudhon und von Kropotkin zu Bookchin), die unausweichlich zur Schaffung einer neuen hierarchischen Teilung innerhalb der Befreiungsbewegung führt zwischen den Inhabern der »wissenschaftlichen« bzw. »objektiven« Wahrheit und dem Rest.
Aber, wenn auch der modernistische Objektivismus fragwürdig und nicht wünschenswert zu sein scheint, so bedeutet das nicht, dass der post-modernistische Subjektivismus weniger fragwürdig und wünschenswerter wäre. Der Postmodernismus kann leicht zu allgemeinem Relativismus und Irrationalismus führen, wenn nicht gar zu vollständiger Aufgabe radikaler Politik. So impliziert die Übernahme eines postmodernen »verallgemeinerten Konformismus« (6) in der Tat die Aufgabe jeglicher Idee eines Befreiungsprojekts unter dem Vorwand, »Vielstimmigkeit« ertönen zu lassen, und unter dem (rechten) Banner, dass »Politik, recht verstanden, ganz entschieden subjektiv ist« (7).
Das Dilemma, zwischen einem modernistischen »objektivistischen« und einem postmodernistischen subjektivistischen Herangehen bei der Rechtfertigung des Vorhabens einer alternativen Gesellschaft wählen zu müssen, ist aber ein falsches Dilemma. Denn heute ist es möglich, ein Befreiungsprojekt mit dem Ziel einer umfassenden Demokratie ohne Rückgriff auf kontroverse objektive Begründungen oder auf einen postmodernen Neokonservatismus zu definieren. Wenn wir also das Befreiungsprojekt in Begriffen der Forderung nach gesellschaftlicher und individueller Autonomie definieren, so, weil wir ganz bewußt Autonomie wie auch ihren demokratischen Ausdruck wählen und ausdrücklich die Möglichkeit irgendwelchen »objektiven« Gesetze, Prozesse oder Tendenzen ausschließen.
Darüber hinaus macht die Bestimmung von Freiheit in Begriffen von Autonomie es möglich, Demokratie nicht bloß als eine Struktur anzusehen, die gleiche Teilhabe an der Macht institutionalisiert sondern auch als einen Prozess gesellschaftlicher Selbstinstitutionalisierung (self-institution), in deren Zusammenhang Politik sowohl kollektive, als auch individuelle Autonomie zum Ausdruck bringt. Als Ausdruck kollektiver Autonomie gestaltet Politik sich auf dem Weg über ein In-Frage-stellen der bestehenden Institutionen und über deren Veränderung durch überlegte gemeinsames Handeln. Auch als Ausdruck individueller Autonomie »sichert die Polis mehr als ein Überleben von Menschen«. »Politik ermöglicht auch die Entwicklung des Menschen als eines Geschöpfes, das zu echter Autonomie, Freiheit und Vortrefflichkeit fähig ist.«(8) Das ist wichtig, wenn wir insbesondere die Tatsache berücksichtigen, dass der allen Diskussionen über Demokratie gemeinsame Irrtum darin besteht verschiedene Typen früherer Gesellschaften bzw. Gemeinschaften als Demokratien zu bezeichnen, nur weil sie auch demokratische Formen der Entscheidungsfindung (Volksversammlungen) oder wirtschaftliche Gleichheit aufwiesen. Demokratie als Prozess gesellschaftlicher Selbstinstitutionalisierung (self-institution) impliziert jedoch eine Gesellschaft, die weltanschaulich offen ist, die also nicht auf irgendein geschlossenes System von Glaubenshaltungen, Dogmen oder Ideen gegründet ist. »Demokratie ist«, wie Castoriadis es formuliert, »das Vorhaben, Eingeschlossenheit auf der kollektiven Ebene aufzubrechen.« (9) Deshalb dürfen in einer demokratischen Gesellschaft Dogmen und geschlossene Ideensysteme nicht Teile des herrschenden gesellschaftlichen Paradigmas bilden, obwohl Individuen natürlich was für Glaubenshaltungen auch immer einnehmen können, solange sie sich verpflichtet wissen, das Prinzip der Demokratie aufrecht zu erhalten, nämlich das Prinzip, demzufolge eine Gesellschaft autonom, also als inklusive Demokratie institutionalisiert ist.
Das grundlegende Element der Autonomie besteht in der Schaffung unserer eigenen Wahrheit, etwas, was in Gesellschaft lebende Individuen nur durch direkte Demokratie erlangen können, d.h. durch den Prozess, über den sie ständig jegliche Institution, Tradition oder »Wahrheit« in Frage stellen. In einer Demokratie gibt es eben keine gegebenen Wahrheiten. Die Praxis individueller und kollektiver Autonomie setzt Autonomie im Denken voraus.
Dennoch bedeutet die Tatsache, dass das Vorhaben einer Autonomie im allgemeinen und einer umfassenden Demokratie im besonderen nicht objektiv begründet ist, nicht, dass eben »alles geht« und es deshalb unmöglich wäre, irgendeine definierbare Gesamtheit von Grundsätzen zur Einschätzung gesellschaftlich-politischer Veränderungen herzuleiten bzw. eine begrenzte Zahl ethischer Werte zur Bewertung menschlichen Verhaltens zu entwickeln. Vernunft ist immer noch notwendig in einem Prozess der Herleitung von Grundsätzen und Werten, die mit dem Autonomieprojekt vereinbar und insofern rational sind. Deshalb bringen die in solch einem Prozess entwickelten Grundsätze und Werte nicht einfach persönliche Geschmacksempfindungen und Wünsche zum Ausdruck; tatsächlich sind sie viel »objektiver«, als diejenigen Grundsätze und Werte, die aus strittigen Interpretationen der Entwicklung von Natur und Gesellschaft abgeleitet sind. Die logische Vereinbarkeit der ersteren mit dem Projekt »Autonomie« könnte in ganz unstrittiger Weise bestimmt werden im Unterschied zu der bestreitbaren »Objektivität« der letzteren.
2. Über Marx' und Proudhons Wirtschaftswissenschaft hinaus
Aber nicht nur zur Methodologie und besonders zum Glauben an »objektive« bzw. »wissenschaftliche« Wahrheiten hatten Marx und Proudhon eine gemeinsame Einstellung. Gleiches gilt hinsichtlich ihrer jeweiligen Wirtschaftstheorien, ungeachtet einiger offensichtlicher Unterschiede zwischen ihnen. So wurde etwa die klassische Lösung, den Wert von Gütern und Dienstleistungen in Begriffen von Arbeitsstunden eines Menschen zum Ausdruck zu bringen, die von den orthodoxen (politischen) Ökonomen ihrer Zeit entwickelt wurde, sowohl von Proudhon, als auch von Marx übernommen. Aber die Arbeitstheorie des Wertes ist, abgesehen von der Tatsache, dass sie alle möglichen Probleme hervorruft in Bezug auf die Gleichwertigkeit verschiedener Arten von Arbeit, die »Verwandlung« der benutzten Werkzeuge/Ausrüstung in Arbeitsstunden pro Mensch usw., auch grundsätzlich nicht mit einer freiheitlichen Gesellschaft vereinbar, wie u.a. Kropotkin gezeigt hat. (10)
Darüber hinaus ist diese Theorie unvereinbar mit einem Allokationssystem, das auf Wahlfreiheit beruht. Der Grund dafür ist, dass, selbst wenn die Arbeitstheorie des Wertes einen (teilweisen) Hinweis auf die Verfügbarkeit von Ressourcen geben kann, sie ganz sicher nicht als Mittel zu verwenden ist, Verbraucherpräferenzen zum Ausdruck zu bringen. Deshalb kann die Arbeitstheorie des Wertes nicht als Grundlage für ein System der Ressourcenallokation dienen, das darauf abzielt, sowohl Bedürfnisse zu befriedigen, als auch gleichzeitig Verbrauchersouveränität und Wahlfreiheit zu sichern.
Eben deshalb habe ich ein Modell wirtschaftlicher Demokratie (4) vorgeschlagen, das (im Unterschied zu Proudhons Modell) eine staats-, geld- und marktfreie Wirtschaft zur Voraussetzung hat und die Institutionalisierung von Privilegien einiger weniger Gesellschaftsbereiche und private Reichtumsakkumulation ausschließt. Dieses System besteht aus zwei Grundelementen, einem »Markt«-element, das die Schaffung eines künstlichen »Marktes« einschließt, der tatsächliche Wahlfreiheit sichert, ohne die nachteiligen Wirkungen zu erleiden, und aus einem Planungselement, das die Schaffung eines Rückkoppelungsprozesses demokratischer Planung zwischen Versammlungen am Arbeitsplatz, in den Gemeinden und auf der Ebene einer Konföderation einschließt.(4) In solch einem System bedarf es keiner »objektiven« Bewertung von Waren und Arbeitskräften, die eine »wissenschaftliche« Theorie, wie die Arbeitswerttheorie, notwendig machen würde, um sie zu erreichen. Anstelle dessen werden sowohl der Waren-, als auch der Arbeitswert durch individuelle und kollektive Entscheidungen von Bürgerinnen und Bürgern bestimmt.
Die Tatsache jedoch, dass Proudhon das Marktsystem nicht ausschließt, verleitet ihn dazu, den Wettbewerb zu feiern. Wie Proudhon unterstreicht, »(besteht) der beklagenswerteste Irrtum des Sozialismus ... darin, sie (sc. die Konkurrenz) als Umsturz der Gesellschaft angesehen zu haben«. »Es kann hier also nicht die Rede davon sein, die Konkurrenz zu zerstören, etwas, was genauso unmöglich ist, wie die Freiheit zu zerstören. Es handelt sich vielmehr darum, ihr Gleichgewicht zu finden, ich würde sogar sagen, ihre öffentliche Ordnung.« (11) ... »Die Konkurrenz als Position bzw. Entwicklungsphase der Wirtschaft ist in ihrem Ursprung betrachtet das notwendige Ergebnis des Auftretens der Maschinen, der Bildung der Werkstatt und der Theorie der Reduktion der allgemeinen Kosten; in der ihr eigentümlichen Bedeutung und in ihrer Entwicklungstendenz betrachtet ist sie die Art und Weise, in der die Tätigkeit der Gesellschaft in Erscheinung tritt und ausgeübt wird, Ausdruck der gesellschaftlichen Spontaneität, wirksamstes Instrument der Konstituierung des Wertes, Stütze für die Assoziation.« ... »Das Monopol ist das natürliche Gegenstück zur Konkurrenz. Diese einfache Beobachtung genügt, wie wir bereits erwähnt haben, um die Utopien fallen zu lassen, die daran denken, die Konkurrenz abzuschaffen, als wenn diese die Assoziation und die Brüderlichkeit zum Gegensatz hätte. Die Konkurrenz ist die Lebenskraft, die das Gruppenwesen beseelt; sie zerstören, wenn so etwas überhaupt unterstellt werden könnte, hieße die Gesellschaft töten. «(11)
Diese Aussagen Proudhons über den Wettbewerb kann man auf zweierlei Art deuten. Eine besteht darin, sie im institutionellen Rahmen einer Marktwirtschaft zu sehen, wie Marx, der Proudhons Ansichten hierzu zutreffend kritisiert hat. Die andere Art ist, sie innerhalb Proudhons föderalistischer Wirtschaft zu sehen. Im erstgenannten Fall verraten Proudhons Feststellungen zur Konkurrenz ein dürftiges Verständnis ihrer wirtschaftlichen Bedeutung als Mechanismus, der für die Dynamik des Systems der Marktwirtschaft sorgt. Marx also hatte ein sehr viel angemesseneres Verständnis der wirtschaftlichen Bedeutung des Wettbewerbs, obwohl er selbst seiner »wissenschaftlichen« Interpretation von Geschichte zum Opfer fiel, wie aus der Tatsache hervorgeht, dass er in seinem dialektischen Schema den Wettbewerb als durch »das feudale Monopol« hervorgebracht ansah, das die These darstellt gegenüber der Antithese Wettbewerb und dem neuzeitlichen Monopol als Synthese.(12) Anders gesagt, Marx sieht die Errichtung des Systems der Marktwirtschaft als Erzeugnis der Evolution. Und tatsächlich hat sich die Marktwirtschaft selbst ja eigentlich auch nicht aus einer feudalen Zeit »herausentwickelt«, sondern ist doch im wahrsten Sinne des Wortes im 18. und besonders im 19. Jahrhundert, vor allem in England, explodiert. Deshalb war, im Gegensatz zu dem, was Liberale und Marxisten behaupten, die Ver-Marktung der Wirtschaft nicht einfach ein evolutionärer Prozeß, der unausweichlich aus der Ausdehnung des merkantilistischen Handels folgte.
Wenn wir jedoch die Hypothese akzeptieren, dass Konkurrenz der Motor der Marktwirtschaft sei, dann bedeutet das, dass die gegenwärtige Konzentration wirtschaftlicher Macht und die lnternationalisierung der Marktwirtschaft nicht einfach das Ergebnis »schlechter« Regierungspolitik oder von »Versäumnissen des Marktes« sind. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, vollzog sich die Verlagerung vom Eigentümer- (bzw. Unternehmer-) Kapitalismus hin zur heutigen internationalisierten Marktwirtschaft, in der wenige riesige Gesellschaften die Weltwirtschaft kontrollieren, nicht, wie es z.B. Chomsky darstellt, als Ergebnis einer »Reaktion auf große Marktversäumnisse des späten 19. Jahrhunderts«.(13) Nein, es war Wettbewerb, der von einfachen Unternehmerfirmen zu den gegenwärtigen Riesengesellschaften führte. Es war Wettbewerb, der die Notwendigkeit der Ausdehnung hervorrief, so dass die (vom Gesichtspunkt der Profite aus gesehen) besten Technologien und Methoden, die Produktion zu organisieren (economies of scale usw.) angewendet werden. Und es war wiederum Wettbewerb, der zu der heutigen Explosion von Zusammenschlüssen und Übernahmen wie auch zu den verschiedenen »strategischen Allianzen« in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern geführt hat. In diesem Problemzusammenhang ist es innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens von parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft nicht möglich, dem Prozeß zunehmender Konzentration wirtschaftlicher Macht zu steuern.
3. Über Marx' und Proudhons »Demokratie«-Konzeptionen hinaus
Ein weiteres Gebiet, auf dem wir, heute sowohl über Marx, als auch über Proudhon hinausgehen müssen, ist das ihrer Ansichten über Demokratie. Es ist kein Zufall, dass für Marxisten ebenso wie für viele Libertäre, einschließlich Proudhon, Demokratie - selbst wenn damit direkte Demokratie gemeint ist - als eine Art von »Herrschaft« anzusehen ist, die eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft voraussetzt.
Was etwa zunächst die marxistische Demokratiekonzeption betrifft, so ist sie ganz klar eine etatistische Demokratiekonzeption. In dieser Konzeption wird Demokratie für die ganze geschichtliche Periode, die den Kapitalismus vom Kommunismus trennt, d.h. für die gesamte Periode, die »Reich der Notwendigkeit« genannt wird, da Mangel zu Klassenantagonismen führt, die Klassendiktaturen der ein oder anderen Art unausweichlich machen, nicht vom Staat unterschieden. So steht für Marx fest: »Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.« (14)
Deswegen ist es offensichtlich, dass in der marxistischen Weltanschauung eine nicht-etatistische Auffassung von Demokratie undenkbar ist, sowohl in der zum Kommunismus führenden Übergangsphase, als auch in der höheren Phase einer kommunistischen Gesellschaft: in der ersteren, weil das Reich der Notwendigkeit eine etatistische Form von Demokratie notwendig macht, in der politische und wirtschaftliche Macht nicht unter allen Bürgern, sondern nur unter den Angehörigen des Proletariats verteilt ist; in der letzteren, weil, wenn wir das Reich der Freiheit erreicht haben, überhaupt keine Form der Demokratie mehr notwendig ist, da dann keine bedeutenden Entscheidungen mehr zu fällen sein werden! So werden etwa auf der wirtschaftlichen Ebene inzwischen Mangel und Arbeitsteilung verschwunden sein, und deshalb wird es keine Notwendigkeit mehr geben, bedeutende wirtschaftliche Entscheidungen über Ressourcenallokation zu fällen. Und ebenso wird auf der politischen Ebene die Verwaltung von Sachen die Verwaltung von Menschen ersetzt haben, und deshalb wird es auch hier keine Notwendigkeit mehr geben, bedeutende politische Entscheidungen zu fällen.
Wenn also Bedürfnisse und Mangel objektiv definiert werden, dann ist die kommunistische Nach-Mangelphase in Wirklichkeit ein mythischer Zustand, und jede Bezugnahme auf ihn könnte ganz einfach benutzt werden (und ist auch benutzt worden), die unbegrenzte Aufrechterhaltung staatlicher Macht sowie von Machtbeziehungen und -strukturen zu rechtfertigen. Die Abschaffung des Mangels und infolgedessen der Arbeitsteilung ist weder eine notwendige, noch eine zureichende Voraussetzung für Demokratie. Deshalb sollte der Aufstieg des Menschen vom Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit von dem ökonomischen Prozess abgekoppelt werden. Historisch hat es mancherlei Gelegenheiten gegeben, da verschiedene Grade von Freiheit unter Bedingungen fortbestanden haben, die als zum »Reich der Notwendigkeit« gehörig gekennzeichnet werden konnten. Darüber hinaus gibt es, sobald wir aufhören, diese zwei Reiche als einander ausschließend zu behandeln, keine Rechtfertigung mehr für irgendeinen Versuch, die Natur zu beherrschen -ein wichtiges Element marxistischer Wachstumsideologie-, um in das »Reich der Freiheit« einzugehen. So muss über die marxistische Auffassung von Demokratie hinaus gegangen werden.
Was Proudhons Auffassung von Demokratie betrifft, so verdeutlichen eine Reihe seiner Feststellungen, dass er ihre klassische Konzeption, die sie in Begriffen gleicher Verteilung von Macht definiert, mit autoritären bzw. etatistischen Konzeptionen verwechselt. So sagt er zunächst, dass »man mit der vollständigsten Demokratie auch nicht frei sein kann«, da Demokratie »die Souveränität des Volkes bzw., besser gesagt, der Mehrheit eines Volkes« ist. (15) Dann definiert er Demokratie als »Regierung aller durch jeden Einzelnen« (16) um mit dem Aphorismus zu schließen: »Entzieht dem demokratischen Prinzip, entzieht der Freiheit jene höchste Sanktion (sc. die Konstituierung von Initiativkraft und Urteilsfähigkeit in Form staatlicher Autorität) und augenblicklich geht die Autorität, der Staat, unter. « (16)
Aber, es gibt, wie von bedeutenden Denkerinnen und Denkern sowohl in der demokratischen (Hannah Arendt, Cornelius Castoriadis), als auch in der anarchistischen Tradition (Murray Bookchin, April Carter) gezeigt worden ist, nur eine Form von Demokratie auf der politischen Ebene, nämlich die direkte Ausübung von Souveränität durch die Menschen selbst, die jede Art »Herrschaft« ablehnt und gleiche Machtausübung institutionalisiert. April Carter schlägt hierzu einen besonders eindringlichen Ton an, wenn sie feststellt, dass »Engagement an direkter Demokratie oder an Anarchie in der soziopolitischen Sphäre mit politischer Autorität unvereinbar« ist. »Die einzige Autorität, die es in einer direkten Demokratie geben darf, ist die in der politischen Körperschaft liegende Gruppen-Autorität. ... es ist zweifelhaft, ob Autorität von einer Gruppe von Gleichen gebildet werden kann, die Entscheidungen durch einen Prozeß wechselseitiger Überzeugung erreichen.« (17)
Proudhon jedoch, selbst wenn er anzuerkennen scheint, dass es in einer authentischen Demokratie keine Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft gibt, übernimmt die übliche Kritik an der Demokratie, die auf die angebliche Undurchführbarkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen gegründet ist, »Das demokratische Ideal bestünde darin, dass die regierte Menge gleichzeitig auch die regierende Menge wäre; dass die Gesellschaft mit dem Staat identisch und ihm gleichwertig und das Volk mit der Regierung identisch und ihr gleichwertig wäre, ... wenn die Ausdehnung des Staates niemals diejenige einer Stadt oder Gemeinde überschreiten dürfte, so überließe ich es jedem, sich darüber nach eigenem Gusto ein Urteil zu bilden und dann wär's das ja wohl auch. Aber ... es handelt sich um große Ansammlungen von Gebieten, in denen Städte, Dörfer und Weiler zu Tausenden zählen, ... « (18)
Doch der Grund, warum Proudhon die Demokratie ablehnt, hat mit Durchführbarkeit an sich nicht viel zu tun, sondern eher etwas mit der Tatsache, dass er das demokratische System als autoritär ansieht, da es nicht den Grad von Freiheit sichert, den der Föderalismus angeblich gewährleistet. Für Proudhon sind Demokratie, Monarchie, Kommunismus und Anarchie, »da keine von ihnen sich in der Reinheit ihres jeweiligen Ideals verwirklichen kann, darauf beschränkt .... einander mittels wechselseitiger Anleihen zu ergänzen. « (19) Aufgrund dieser Problematik erklärt er: »... da ... die auf Freiheit bzw. Vereinbarungen sich gründende Herrschaftsform von Tag zu Tag mehr über die autoritäre Herrschaftsform siegt, müssen wir uns jetzt an die Idee des Vertrages heranmachen... « (19)
Nachdem er die Demokratie als auf Autorität gegründet zurückgewiesen hat, definiert er eine Föderation als »ein Übereinkommen, durch welches ... eine oder mehrere Gemeinden, eine oder mehrere Gruppen von Gemeinden oder auch Staaten sich gegenseitig und gleichermaßen die einen gegenüber den anderen für einen oder mehrere besondere Gegenstände verpflichten, für die die Verantwortung dann und ausschließlich den Beauftragten der Föderation obliegt«.(19) Um Proudhons föderalistisches System einschätzen zu können, ist es wichtig, zunächst festzuhalten, dass es -sogar auf lange Sicht- eine Marktwirtschaft und Wettbewerb zur Voraussetzung hat. Das geht nicht nur aus seinen Feststellungen zur Konkurrenz hervor, sondern auch aus anderen Erklärungen, in denen er nicht klar macht, ob er sich auf eine Übergangszeit oder auf eine sehr lange Frist bezieht. In Proudhons föderalistischem System tauschen mutualistische Assoziationen unabhängig voneinander arbeitender Eigentümer die Erzeugnisse ihrer Arbeit und organisieren ihre Beziehungen mit Hilfe zweiseitiger Verträge, die auf gleichem Tausch beruhen. Meiner Meinung nach könnte Proudhons föderalistisches System aufgrund sowohl seiner Durchführbarkeit, als auch seiner Wünschbarkeit einer Kritik unterzogen werden.
Die Kritik bezüglich seiner Durchführbarkeit könnte in Verbindung mit der Frage formuliert werden, wie eine Koordination zwischen Arbeitern als Erzeugern einerseits und Nicht-/Arbeitern als Verbrauchern andererseits in den heutigen komplexen und technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften durch zweiseitige Verträge organisiert werden könnte. Es ist doch offensichtlich, dass die schiere Zahl von erforderlichen Verträgen entweder zur Rekrutierung eines riesigen Heeres von Bürokraten führen wird oder die Arbeiter werden den größten Teil ihrer Zeit damit verbringen, solche Verträge auszuhandeln. Darüber hinaus gibt es keinen Hinweis darauf, wie eine makroökonomische Übereinstimmung zwischen Gesamtangebot und -nachfrage, Konsum und Investition innerhalb eines auf Verträge gegründeten Wirtschaftssystems gesichert werden könnte - es sei denn, dieses System hätte einen umfassenden Planungsmechanismus im Rücken. Aber ein Planungsmechanismus, der nicht demokratisch in Versammlungen gefällte Entscheidungen zur Grundlage hat, in denen der demos (d.h. die Gesamtheit aller Bürgerinnen und Bürger) gemeinsam die Alle betreffenden makroökonomischen Ziele bestimmen kann, muß zwangsläufig in einer Art bürokratischer Zentralplanung enden. All das gesagt, einmal ganz abgesehen von der üblichen Kritik gegenüber diesem Vorschlag, dass nämlich die Frage, wie die Einhaltung der Verträge durchzusetzen ist, leicht zu einer neuen Art von Etatismus führen kann.(20)
Die Kritik hinsichtlich der Wünschbarkeit von Proudhons föderalistischem System bezieht sich auf die Tatsache, dass Wettbewerb zwischen Gruppen von Arbeitern leicht zu neuen Ungleichheiten zwischen mehr und weniger wettbewerbsfähigen/produktiven Gruppen führen kann. Der Markt kann von selbst keine Gleichheit erreichen, da Unterschiede in der Produktivität notwendig zu Unterschieden in der Wettbewerbsfähigkeit führen, die ihrerseits auf der makroökonomischen Ebene neue ungeheure Ungleichheiten hervorrufen würden. Und natürlich dürfte die Einführung eines Mindestgrundeinkommens, wie es heute unter anderem von orthodoxen grünen Ökonomen (21) vorgeschlagen wird, kaum die unausweichlichen riesigen Ungleichheiten beseitigen. Ein wirksamer Plan für ein garantiertes Mindesteinkommen würde höchstens die Befriedigung von Grundbedürfnissen sicherstellen. Aber, in einer Markt- und Geldwirtschaft kann das nicht die Entwicklung ungeheurer Ungleichheiten in der Verteilung von Wohlstand und folglich in der Verteilung wirtschaftlicher Macht verhindern. Wenn darüber hinaus das vorgeschlagene Tauschsystem nicht an ein System gruppalen Eigentums an den Produktionsmitteln gebunden wird, dann ist Proudhons föderalistisches System dazu verurteilt, lediglich als eine weitere Version des kapitalistischen Systems zu enden.
Und schließlich gibt es, wie Murray Bookchin unterstreicht, keinen historischen Beleg zugunsten von Proudhons vertraglich gestütztem Assoziationsideal, was vor-hierarchische Gesellschaften angeht: »Vorschriftliche Gesellschaften haben diesem vertraglich gestützten Assoziationsideal nie angehangen; sie leisteten sogar jedem Versuch gegenüber, es ihnen aufzuerlegen, Widerstand. Sicher gab es viele Verträge zwischen Stämmen und Bündnisse mit Ausländern. Aber vertragliche Bindungen innerhalb von Stämmen haben im wesentlichen nicht existiert. Erst als die Hierarchie ihren Triumph in der frühen Welt erzielt und ihre Reise in die Klassengesellschaft begonnen hatte, fingen Gleichwertigkeit, »Billigkeit« und Vertrag an, den Kontext für Beziehungen in und zwischen menschlichen Gesellschaften zu formen. Das quid pro quo des Tausches und seine ethischen Bilanzen waren schlicht bedeutungslos für eine Gemeinschaft, die von den Gewohnheiten des Nießbrauches, der Ergänzbarkeit und des äußersten Mindestbedarfes geleitet wurde. « (22)
Es ist deshalb nicht überraschend, dass Libertäre, wie Bookchin, schlussfolgern, dass Proudhons »starke Betonung individueller Eigentümerschaft, von Eigeninteresse, von vertraglichen Marktverhältnissen und einer Verteilung, die eher auf Fähigkeit als auf Notwendigkeit beruht, und seine unerbittliche Feindschaft gegen Assoziationismus und Kommunismus, »daß all das überraschenderweise nicht von der herkömmlichen bourgeoisen Weisheit seiner Zeit zu unterscheiden war«. (23)
Abschließend denke ich, dass das, was wir auf dem Wege der Entwicklung eines neuen Befreiungsvorhabens brauchen, nicht in einer Rückkehr zu Marx oder Proudhon besteht, sondern statt dessen in einer Aneignung der bitteren Erfahrungen der sozialistischen Bewegung in den letzten 150 Jahren und in der Entwicklung einer neuen Art, Fragen zu stellen, die für die heutige Wirklichkeit der internationalisierten Marktwirtschaft geeignet ist. Eine Fragestellung, die die Grundlage für ein neues Projekt sein wird, das darauf abzielt, sowohl über die sozialistischen als auch über die demokratischen Traditionen hinauszugehen in einer neuen Synthese, die nicht ein bloßes neues Utopia sein wird, sondern ein Weg heraus aus der chronischen multidimensionalen Krise, in die uns die Dynamik der Marktwirtschaft und der repräsentativen Demokratie hinein geführt hat.
Übersetzt von Lutz Roemheld
Aus: Schwarzer Faden, Nr. 72, 2/2001
Anmerkungen:
(1) Zit. Nach Karl Marx: Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie (Urausgabe), Verlag von Otto Meissner, Hamburg 1867, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 1980, S.]X, XI. (d.Ü.).
(2) Pierre-Joseph Proudhon: System der wirtschaftlichen Widersprüche oder: Philosophie des Elends, in der v.Ü. überarbeiteten Fassung von Karl Grün, s.u.S.
(3) Karl Marx an Johann Baptist v. Schweitzer am 24. Januar 1865 über Proudhon nach dessen Tod am 19. Januar 1865; wiedergegeben wird der Text aus Anhang 6 von Karl Marx: Das Elend der Philosophie, neu hsg. v. Hans Pelger, Dietz, Berlin - Bonn, 11. Aufl. 1979, S. 171 178, S. 174 u. 175; "mit den (statt fehlerhaft "dem") Utopisten" (vgl. Karl Marx: Das Elend der Philosophie, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt a. M. 1971, S. 221 (Anhang 4), der Textteil in ( ): eig. Übs. des französischen Wortlautes in Marx' Brief (d.Ü.).
(4) Takis Fotopoulos: Towards An Inclusive Democracy - The Crisis of the Growth Economy and the Need For A New Liberatory Project, Cassell, London 1997, ch. 8.
(5) Pierre-Joseph Proudhon: Philosophie de la Misère - Karl Marx: Misère de la Philosophie (annotèe par P,-J. Proudhon), édité par Je groupe Fresnes-Antony de la Fédération anarchiste, t, III, s.a., s.1. p. 326 (Apperidice); eig Übs. (d.Ü.).
(6) Cornelius Castoriadis: The Retreat from Autonomy - Postmodernism as Generalised Conformism, in seinem World in Fragments, Stanford University Press, Stanford, 1997, pp. 32 - 46; eig. Übs. (d.Ü.).
(7) Faul Feyerabend: Farewell to Reason, Verse, London 1987, p. 306; eig. Übs. (d.Ü.).
(8) Cynthia Farrar, die auf das Denken des sophistischen Philosophen Protagoras Bezug nimmt. Siehe ihren Artikel Ancient Greek Political Theory as a Response to Democracy in: Democracy, John Dunn, ed., Oxford University Press, Oxford 1992, p@ 24; eig@ Übs. (d.Ü.)
(9) Cornelius Castoriadis: Philosophy, Politics, Autonomy, Oxford University Press, Oxford 1991, p. 21; eig. Übs. (d.Ü.)
(10) Peter Kropotkin: Eroberung des Brotes, Trotzdem, 1989, Kapitel 13.
(11) Pierre-Joseph Proudhon: System der wirtschaftlichen Widersprüche a.a.0. (s.o.Anm. 3), s.u.S.
(12) Karl Marx: Das Elend der Philosophie hsg, v. Hans Pelger a.a.0. (s.o. Anm. 10), S, 11 1 - 112.
(13) S. Takis Fotopoulos: Mass Media, Culture and Democracy, Dernocracy & Nature, vol. 5, no. 1, pp. 33 - 64.
(14) Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Gothaer Programm), April - Mai 1875, in Karl Marx - Friedrich Engels, Studienausgabe in vier Bänden hsg, v. [ring Fetscher, Bd. 111, Geschichte und Politik 1, Fischer Bücherei, Frankfurt a. M. 1966, S. 174 190, S@ 186.
(15) Pierre-Joseph Proudhon: Qu 'est-ce que la Propriété? - Premier Mémoire: Recherches sur le Principe du Droit et du Gouvernement, nouvelle édition, Librairie internationale, Paris A.Lacroix, Verboeckhoven & Cie, Bruxelles Leipzig - Livourne 1867, p. 29 (Übs. aus dem franz. Original durch d. Ü.)
(16) Pierre-Joseph Proudhon: Über das Föderative Prinzip und die Notwendigkeit, die Partei der Revolution wieder aufzubauen, Teil 1, Lang, Frankfurt a.M. 1989 (Demokratie, Ökologie, Föderalismus, Bd. 6), S. 33.
(17) April Carter: Authority arid Democracy, Routledge, London 1979.
(18) Pierre-Joseph Proudhon: Contradictions politiques - Théorie du Mouvement constitutionnel au XlXe siècie; Oeuvres complates nouv, ad., Librairie Marcel Rivi@re, Paris 1952, pp. lo5 - 303, p. 237;
(19) Pierre-Joseph Proudhon: Über das Föderative Prinzip a.a.0. (s.o.Anm. 41 ), S. 48.
(20) Peter Marshall: Demanding The Impossible - A History of Anarchism, Harper, London 1992, pp. 252 - 262.
(21) S. z.B. James Robertson: Beyond the Dependency Culture, Adamantine Press, Twickenham 1998, ch. 16.
(22) Murray Bookchin: The Ecology of Freedom, Black Rose, Montreal 1991, p. 320; eig. Übs. (d. Ü.)
(23) Murray Bookchin: The Third Revolution - Popular Movements in the Revolutionary Era, vol. 2, Cassell, London 1998, p. 41